Cool Hunter
hing schlaff und leblos um meinen Hals und bot keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie man es in eine Fliege verwandelte. Ich wusste theoretisch zwar viel über Halsbekleidung für Männer, hatte aber kaum persönliche Erfahrungen. Querbinder oder Langbinder – wie die Fliege beziehungsweise Krawatte in Fachkreisen genannt werden – waren nun mal kein integraler Bestandteil der Welt der Jeans, T-Shirts, Skater-Labels und neuesten Sneakers, in der ich mich bewegte. Kurz: In Sachen Smokingfliege war ich so unbeleckt, als wäre ich gerade eben erst aus Minnesota hergezogen.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass mir exakt dreißig Minuten Zeit blieben, um das Geheimnis dieser im Laufe von fünfhundert Jahren immer wieder verfeinerten Halsbekleidungstechnik zu ergründen. Nicht zum ersten Mal verfluchte ich die Kleine Eiszeit …
Wenn ihr das nächste Mal gezwungen werdet, euch ein Stück Stoff quer oder lang um den Hals zu binden, gebt ruhig der Sonne die Schuld daran.
Wie jeder Bürohengst oder Zögling einer Privatschule weiß, sind Krawatten im Grunde nichts anderes als eine Uniformierung – die meisten Menschen tragen sie, weil sie es müssen, nicht weil sie es wollen. Daher wird es niemanden überraschen, dass die früheste bekannte Halsbekleidung an
Männern gefunden wurde, die keine andere Wahl hatten – nämlich an den Terrakottastatuen chinesischer Soldaten aus dem Jahre 210 v. Chr. Etwa vier Jahrhunderte später begannen auch die römischen Soldaten Krawatten zu tragen (offenbar waren Nudeln nicht das Einzige, das die Italiener von den Chinesen übernommen haben – Produktpiraterie mal umgekehrt). Trotzdem blieb es lange dabei, dass nur diejenigen Männer Krawatten trugen, die mehr oder weniger dazu gezwungen wurden – bis es dann vor ungefähr fünfhundert Jahren auf einmal ungemütlich kalt wurde auf unserem Planeten.
Die Sonne fuhr ihre Aktivität herunter und begann, immer weniger Hitze abzustrahlen. Langsam, aber sicher senkte sich die Kleine Eiszeit über die Welt und das hatte ernsthafte Konsequenzen. In Frankreich verschluckten Gletscher ganze Städte, in Holland wurde Schlittschuhlaufen zum Volkssport und sämtliche Wikinger in Grönland erfroren. Ja, richtig gelesen. Die Wikinger haben die Winter damals nicht überlebt. So kalt war es.
Die Folge? Alle Leute fingen plötzlich an, Schals zu tragen – und zwar drinnen wie draußen.
Natürlich war es unvermeidlich, dass irgendein Innovator den Kleine-Eiszeit-Kleidungscode irgendwann langweilig fand und ein bisschen herumzuexperimentieren begann. Er fing an, einen Schal zu tragen, der schmaler war als die der anderen, und dachte sich verschiedene Arten aus, ihn zu binden. Der Trend setzte sich durch, weil die Leute wahrscheinlich froh waren, während der langen Winter etwas zu tun zu haben. Unterschiedlich gebundene Schals wurden zum letzten Schrei. Die Krawatte, die Halsbinde und der Steinkerque wurden erfunden
und zu komplizierten Knoten geschlungen. Das »Neckclothitania«, eine satirische Abhandlung über die Krawattenmode aus dem 19. Jahrhundert, listet sage und schreibe zweiundsiebzig verschiedene Arten auf, eine Krawatte zu binden.
Zu meinem und unser aller Glück nahm die Sonne irgendwann ihren Dienst wieder auf und alles wurde wieder wärmer und einfacher.
Heutzutage gibt es immer mehr glückliche Männer, die nur noch zu Hochzeiten, Beerdigungen und Bewerbungsgesprächen Krawatten umbinden müssen. Der Windsor, der halbe Windsor und der Four-in-Hand zählen zu den letzten überlebenden Knoten, und im Grunde existieren nur noch drei Formen der Halsbekleidung: die normale Krawatte, die schmalen string ties der Cowboys und die Fliege. Da die globale Erderwärmung immer weiter zunimmt, besteht Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauert, bis auch sie aussterben.
Bis dieser ersehnte Tag herandämmert, gibt es zum Glück das Internet, wo der moderne Mensch auf alle drängenden Probleme des Lebens eine Antwort erhält. Theoretisch jedenfalls – sprich, wenn ihm die Technik keinen Strich durch die Rechnung macht. Aber nachdem mich mein Browser mit der Nachricht »Zurzeit besteht keine Verbindung zum Internet oder einigen Netzwerkressourcen« in eine kurzfristige Krise gestürzt hatte, fiel mir ein, dass es ja auch noch die gute alte Auskunftsstelle der New York Public Library gibt, wo man anrufen kann und auf alle Fragen zuverlässig und schnell eine Antwort bekommt.
»Hallo? Ich bräuchte eine Erklärung, wie man eine Fliege bindet.
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