Coole Geschichten für clevere Leser
Hände aus. »Was verlangst du, Seth? Mehr konnte ich nun wirklich nicht tun. Es gab keinerlei belastende Hinweise. Da war nur dein Bruder und die Waffe. Keine Fußspuren, keine Anzeichen für einen Kampf, nichts. Ich mußte die Sache Klay überlassen.«
»Aber du kennst doch Klay. Er hat keine Ahnung!«
»Welcher Leichenbeschauer hat das schon? Die braven Bürger von Haughton County haben ihn jedenfalls gewählt, Seth. Ich habe ihn mir nicht ausgesucht.«
»Aber du weißt, daß Billy sich nicht versehentlich erschossen haben kann; seit er neun ist, geht er mit Flinten um, so etwas wäre ihm nie passiert. Warum hat man die Brüder Magruder nicht vorgeladen? Die beiden haben Billy gehaßt, das weißt du. Sie haben immer mit ihm gestritten …«
Garafolo zuckte die Achseln. »Das hier war kein Prozeß, sondern eine Totenschau. Niemand hat Mordvorwürfe erhoben. Woher willst du wissen, daß es die Magruders waren? Warum hätte es nicht auch Jake Damon aus Pine Bluff sein können? Oder ein halbes Dutzend anderer Kerle, die Billy nicht ausstehen konnten? Du wohnst jetzt schon ziemlich lange in der Stadt, Seth. Du kennst den Ort nicht mehr.«
Seth Powers stand auf. Er fand den leeren Saal unerträglich. Gefolgt von Garafolo, ging er zur Tür. Das Gesicht des Deputy war sorgenvoll zerfurcht.
»Du machst doch hoffentlich keine Dummheiten, Seth! Lauf mir nicht in der Gegend herum und wirf den Leuten Mord vor!«
»Ich wüßte gar nicht, wo ich da anfangen sollte«, antwortete Seth müde. »Das wäre eher die Aufgabe der Polizei. Nur muß die Polizei tun, was Klay sagt …«
»So ist es nun auch nicht, Seth. Klay tut seinen Job.«
»Seinen Job? Meinst du ehrlich, er versteht etwas davon? Hältst du ihn für qualifiziert, den Unterschied zwischen Unfall, Selbstmord oder Mord zu erkennen, Joe?«
»Nein«, sagte der Deputy direkt. »Aber so ist nun mal das System, Seth. Klay selbst kannst du das nicht vorwerfen. Wenn wir ihn nächsten November aus dem Amt drängten, käme wahrscheinlich ein Kerl wie er auf die Kandidatenliste. Nicht besser und auch nicht schlechter, nicht qualifizierter als Klay …«
»Das ist einfach nicht fair!«
Joe Garafolo schnaubte durch die Nase. »Wer behauptet denn, das Leben wäre fair? Ich habe nur gesagt, so liegen die Dinge nun mal!«
Eigentlich hatte er angenommen, daß Willard Klay an diesem Abend Gäste haben würde, daß zu seinen Ehren eine Glückwunschparty stattfand. Aber Klay war allein in dem düsteren Holzhaus – ein Haus, das früher für Besucher der Stadt als Schaustück gedient hatte, nach dem Tod von Klays kinderloser Frau aber ziemlich verkommen war. Auf sein Klopfen öffnete Klay die Tür, blinzelte ihn an und verzog schließlich mißbilligend den kleinen Mund. Trotzdem ließ er den Besucher herein.
»Sie können sich bestimmt denken, warum ich gekommen bin, Mr. Klay. Es geht um Billy.«
»Ja, das dachte ich mir«, erwiderte der kleine Mann. »Es hat keinen Sinn, darüber zu streiten, Mr. Powers, die Sache ist erledigt.«
»Für mich nicht, Mr. Klay. Das wollte ich Ihnen nur sagen. Ich bin der Meinung, Sie haben heute früh eine falsche Entscheidung getroffen, und lasse die Sache nicht darauf beruhen.«
Klay richtete sich auf, was ihn nicht viel größer machte. »Jetzt hören Sie mir mal zu, Mr. Powers. Ich bin nun schon in der zweiten Amtsperiode gewählter Leichenbeschauer dieses Landkreises. Wir haben eine rechtlich vorgeschriebene Totenschau abgehalten, super visum corporis, und nichts kann das ändern. Ihr Bruder ist einem Unfall zum Opfer gefallen, das hat die Jury festgestellt.«
»Aber die Jury hat meinen Bruder nicht gesehen – nur Sie haben ihn gesehen.«
»Ich bin der einzige, der die Leiche sehen muß; so steht es im Gesetz. Und ich behaupte, er ist mit der Waffe unvorsichtig umgegangen und hat sich selbst erschossen.«
»Billy war nicht unvorsichtig!« hörte sich Seth brüllen; er hatte seine Stimme nicht mehr im Griff. »Seit seiner Kindheit ist er mit Waffen umgegangen. Dabei hat es nie einen Unfall gegeben, und hätte auch nie einen gegeben! Hier ist ein Mord geschehen, Klay. Mein Bruder ist umgebracht worden!«
Überraschenderweise brüllte der Leichenbeschauer nicht zurück, vielmehr beherrschte er sich und lächelte. Er zog einen Zahnstocher aus der Hosentasche und begann in seinen Backenzähnen herumzustochern.
»Wissen Sie, wo Ihr Problem liegt, Mr. Powers? Sie waren immer der Meinung, Haughton County wäre nicht gut genug für Sie.
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