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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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keineswegs, sondern ließ ihn in einen unruhigen, wenig erfrischenden Schlaf sinken. Als ihn der Schaffner kurz vor North White Plains wachschüttelte, reagierte er völlig verschlafen. Der Tritt des Zuges kam ihm zweimal so hoch vor wie üblich; nur dem Schutzengel aller Betrunkenen war es zu verdanken, daß er sich nicht das Bein brach oder das Fußgelenk verstauchte.
    Auf dem Parkplatz belebte ihn die kühle Nachtbrise. Doch als er schließlich den Wagen fand, den niedrigen Zweisitzer, den er liebevoll T-Bird nannte, gelang es ihm nicht, Schloß und Schlüssel zusammenzubringen. Er verwünschte seine unsichere Hand, verwünschte Henry Ford und die sechs Meilen, die ihn noch von zu Hause trennten. Von zu Hause und Alma. Der Gedanke an seine Frau ernüchterte ihn.
    »Alma«, sagte er laut, startete den Wagen und fuhr auf die Schnellstraße. Ehrfürchtig wiederholte er den Namen. Ihm war ehrfürchtig zumute. Nach zweijähriger Ehe hatte er plötzlich den wirklichen Sinn, die wahre Freude des Zusammenseins mit seiner Frau entdeckt. Als der Kummer begann, hatte er gemeint, es läge an seinem hektischen Beruf, an der Herstellung von Werbefilmen für das Fernsehen: der ständige Druck, der aufreibende Konflikt zwischen Werbeagenturen und Klienten, der von beiden Seiten über ihn hereinbrach. Es war der Beruf, der das Trinken zur Notwendigkeit erhob, der Überstunden unvermeidlich machte, der ihn unweigerlich mit anderen Frauen zusammenführte. Inzwischen wußte er, daß die Schuld bei ihm lag, daß er sich gegen den Gedanken einer Ehe gewehrt hatte. Diesen Kampf hatte er inzwischen überwunden. Er brauchte Alma. Er liebte Alma.
    »Alma, ich liebe dich!« sagte er in die Nacht, und sentimentale Tränen ließen die Straße vor dem Wagen verschwimmen.
    Die Umgebung war immer noch undeutlich, als er auf die ungepflasterte Straße abbog, die seinen Heimweg um eine halbe Meile verkürzte. Er wollte möglichst schnell nach Hause; er hatte Alma versprochen, um acht Uhr da zu sein.
    Er hatte noch immer Tränen in den Augen, als der grünweiße Blitz über die Straße zuckte. Einen Sekundenbruchteil lang ließen die Scheinwerfer des T-Bird das Phantom deutlich hervortreten, das wirbelnde weiße Kleid und den grünen Pullover der Frau, die neben dem defekten Auto stand. Erst später machte er sich klar, wie dicht am Straßenrand er gefahren war und daß er einen Ruck gespürt und ein dumpfes Geräusch gehört hatte – die Folgen eines Zusammenstoßes. Aber das war später. Zunächst raste er mit aufheulendem Motor von der Stelle fort, auf der Flucht vor einem Ereignis, das zu schrecklich war, als daß er sich damit befassen konnte.
    Nach einer Weile wurden seine Gedanken wieder klar, und er verlangsamte die Fahrt. Schließlich stoppte er den Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte über den Vorfall nach und wußte sofort, daß er etwas unternehmen mußte.
    »Was soll ich tun?« flüsterte er. »Zum Teufel, was soll ich tun?«
    Dann kam ihm der Gedanke, daß die Frau vielleicht noch lebte und Hilfe brauchte.
    »Vielleicht hat sie ja nur eine Prellung«, sagte er. »Kommt ja immer wieder vor. Ein bißchen gestreift, nicht weiter schlimm. Ich bin ja gar nicht so schnell gefahren.«
    Er warf die Zigarette aus dem Fenster.
    »Ich muß zurück«, sagte er und widersetzte sich einer leisen Stimme in seinem Kopf, die sich nach dem Grund erkundigte.
    Er legte den Rückwärtsgang ein und wendete auf dem weichen Seitenstreifen des Weges. Dann fuhr er zurück.
    Als erstes sah er den Wagen, einen dunkelgrünen Plymouth, nicht gerade neu. Sämtliche Lichter waren abgeschaltet. Von der Frau war nichts zu sehen, und schon rührte sich in ihm die Hoffnung, daß sie einfach aufgestanden war, sich abgestäubt hatte und bereits Hilfe holen ging.
    Er stellte den T-Bird auf der anderen Seite ab und stieg aus.
    Die Frau fand er fast dreißig Meter von ihrem Wagen entfernt. Sie war in das weiche Laub geschleudert worden, das den Weg säumte; als er ihr unverletztes Gesicht bemerkte, hoffte er, sie könne noch am Leben sein. Aber dann bemerkte er die blutigen Arme, das blutverschmierte Kleid, die unnatürliche Stellung ihres Körpers. Sie war tot. Er hob sie hoch (sie war leicht und zerbrechlich, so mühelos zu heben wie Alma) und trug sie zu den Autos.
    Im Scheinwerferlicht sah er ihr Gesicht. Sie war eine hübsche Frau Anfang Dreißig, eine Frau, die wohl recht attraktiv gewesen wäre, hätte der Tod nicht jeden Gesichtsausdruck

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