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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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ausgelöscht.
    Zum erstenmal betrachtete er das Vorderteil seines Autos und bemerkte die eindeutigen Spuren des Zusammenstoßes. Der Anblick des zerdrückten Metalls war womöglich noch schlimmer als die tote Frau in seinen Armen.
    Panik ergriff ihn, eine Panik, gegen die er sich nicht wehrte. Er zitterte so heftig, daß er die geringe Last nicht mehr zu halten vermochte; er legte sie auf den Boden, ließ sich auf die Knie fallen, barg das Gesicht in den Händen und begann zu stöhnen. Aber er klagte nicht um sie; sie war eine Fremde. Die Klagelaute galten ihm selbst, seinem Pech und seiner Alma. Unfair! Ja, es war unfair! Daß so etwas gerade jetzt passieren mußte, kaum daß er sich entschlossen hatte, ein neues Leben zu beginnen …
    Er stand auf und blickte auf die Tote hinab, und seine Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck, der nur Entrüstung genannt werden konnte.
    »Idiotin!« murmelte er. »Alte Idiotin …«
    Sein Blick fiel auf das verlassene Auto der Frau. Plötzlich erfüllte ihn der Drang, sie auf den Fahrersitz zu heben, wohin sie gehörte, und sie einfach sitzenzulassen und zu vergessen. Sie hatte kein Recht, nachts auf der Straße zu stehen, ohne Licht, ohne Warnzeichen … Ihre eigene Schuld. Warum benahm sie sich so dämlich!
    Er ging zum Plymouth und öffnete die Tür. Der Schlüssel steckte in der Zündung; er drehte ihn, doch es geschah nichts. Batterie, dachte er.
    Schließlich setzte er sie doch nicht in ihren Wagen oder ließ sie am Ort des Geschehens zurück. Damit war nichts gelöst. Man würde sie finden und sofort wissen, wie sie gestorben war. Daraufhin würde man ermitteln, wer diesen Weg jeden Abend befuhr, und feststellen, daß er im Zug gewesen war. Dann war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu seinem beschädigten T-Bird und unangenehmen Fragen – und wenn es erst so weit war, konnte er seine Schuld nicht verbergen. Das konnte er einfach nicht.
    Zeit! dachte Del Harmon. Er brauchte Zeit. Das war die Lösung! Wenn die Frau nicht sofort gefunden wurde, hatte er Zeit, seine Spuren zu verwischen, jede Verbindung zwischen seiner Fahrt und ihrem Tod auszulöschen …
    Er bückte sich und hievte die Frau erneut empor. Seltsamerweise kam sie ihm plötzlich schwerer vor. Er brachte sie zum T-Bird und öffnete die rechte Tür. Nicht ohne Mühe drückte er sie in den schmalen Vordersitz. Sie sank nicht nach vorn; der Schalensitz hielt sie fest; auf den ersten Blick sah sie wie eine erschöpfte Beifahrerin aus. Er ging um den Wagen herum und setzte sich wieder hinter das Steuer.
    Er wußte nicht, wohin er fuhr; ihn erfüllte ein einziger Gedanke: er mußte fort von dem verlassenen Plymouth. Viele Meilen fort, auf eine abgelegene Straße, die ebenso einsam und bewaldet war wie der Weg, auf dem die Tragödie geschehen war. Ein Ort, an dem er seine Beifahrerin loswerden konnte, eine einsame Stelle, wo die Leiche jahrelang modern konnte, ohne entdeckt zu werden .
    Der Weg endete, und er bog auf die Hauptstraße ein. Bis zu der Siedlung, in der er wohnte, war es nur noch eine Meile, eine Meile bis Alma, aber dorthin konnte er jetzt nicht. Der Gedanke war die reinste Qual: die Zuflucht war so nahe und doch so unnahbar. Er raste durch die Vorortstraßen, fluchte über die rote Ampel, die ihn aufhielt, und ließ bei Grün den Motor aufheulen. Die hellerleuchteten Häuser, an denen er vorbeiraste, kamen ihm so gemütlich und voller häuslicher Freude vor, daß Neid ihn erfüllte – und ein irrationaler Haß auf die Fremde neben sich.
    Er wußte nicht, wie weit er fuhr; er blickte nicht auf den Meilenzähler. Er erkannte die Pulham-Brücke, die sich fünfzehn Meilen entfernt im Norden befand; anschließend fuhr er noch eine halbe Stunde. Er fuhr immer weiter, auf der Suche nach Seitenwegen, bis er schließlich auf einer unbekannten Landstraße ein Schild fand mit einer Warnung vor einer unfertigen Straße, die ins Nichts führte. Und dorthin wollte er, ins Nichts; er fuhr den Weg bis zu seinem verlassenen Ende, stoppte den Wagen und schaltete die Lichter aus.
    Dann zerrte er die Leiche der Frau ins Freie und trug sie tief ins Unterholz.
    Dort ließ er sie liegen, bedeckt mit Blättern und Ästen und hastig zusammengekratzter Erde, wie etwas Widerliches, Abscheuliches. Zuletzt kehrte er zum T-Bird zurück, ließ den Motor an und fuhr langsam zur Hauptstraße zurück.
    Es war kurz vor Mitternacht, als die Siedlung vor ihm auftauchte; fast drei Stunden waren vergangen seit dem Augenblick, da er das

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