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Cop

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Titel: Cop Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Jahn
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hat sie sich gerade noch verkniffen, aber es schwingt in ihrer Stimme mit. Beinahe hätte er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt und ihr ins Gesicht geschrien: Was bist du nur für ein Mensch? Das ist deine Tochter, deine Tochter! Wie kannst du es wagen, erleichtert zu sein, wenn es um ihren Tod geht?
    Dabei weiß er ganz genau, was für ein Mensch sie ist: ein Mensch, der loslassen will. Doch die Beerdigung hat nicht die gewünschte Wirkung gehabt, sie konnte trotzdem nicht mit der Vergangenheit abschließen. Erinnerungen lassen sich nicht in Särge sperren oder in der Erde begraben. Deshalb sehnt sie sich nach der Leiche. Sie hat noch nicht begriffen, dass ihr auch die Leiche nicht weiterhelfen wird. Sie hat noch nicht begriffen, dass die Toten erst mit denen sterben, die sie gekannt und geliebt haben.
    Ian schüttelt den Kopf. »Nein. Es gibt keine Leiche. Maggie lebt.«
    Maggie lebt, und sie ist nicht mehr sieben Jahre alt, nicht mehr eingefroren in der Zeit. Sie ist vierzehn, im September wird sie fünfzehn, und heute hat sie um Hilfe gerufen. Direkt an seinem Ohr.
    Er wird nicht zulassen, dass sie zum zweiten Mal stirbt.

ZWEI
    Als Ian die Augen öffnet, liegt er auf der Couch. Den Kopf nach rechts gedreht. Mit einem Auge sieht er ein Stück der gegenüberliegenden Wand, auf dem Boden davor seine Arbeitsschuhe; das andere Auge wird von seinem Arm bedeckt, der halb über seiner Stirn hängt. Einer seiner Schuhe ist zur Seite gekippt, an der Ferse klebt ein verdreckter Kaugummi. Ian richtet sich auf. Sofort spürt er einen stechenden Schmerz im Nacken. Sonnenlicht fällt durch das schmutzige Wohnzimmerfenster auf sechs leere Guinness-Flaschen, die ordentlich aufgereiht vor ihm auf dem Tisch stehen. Sechs gläserne Kegel. Bei zweien fehlt das Etikett; er hat es abgepult und in den Flaschenhals gestopft wie eine Flaschenpost mit geheimer Botschaft. Daneben steht ein Stieltopf mit verrußtem Boden. Oben ragt eine Gabel heraus, an der Innenseite kleben angebrannte Fertignudeln und ein verkochtes Karottenstück. Ganz hinten auf dem Tisch ist ein Schachbrett aufgebaut, mit einer angefangenen Partie. Es kommt ihm vor, als wäre sie vor Urzeiten abgebrochen worden, aber er weigert sich, sie aufzugeben und wegzuräumen. Ian lässt das Gesicht in die Hände sinken und reibt sich die Wangen. Seine Bartstoppeln kratzen wie Sandpapier.
    Da piept seine Armbanduhr. Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk. Keine Uhr. Klar, er hat sie auf die Küchentheke gelegt. Also muss er wohl oder übel aufstehen.
    »Scheiße.«
    Ian stemmt sich vom Sofa hoch, geht rüber in die Küche und schaltet den Alarm ab. Danach spült er den Stieltopf von gestern Abend aus, legt zwei Eier hinein und füllt ihn mit Wasser, bis die Eier bedeckt sind. Er stellt den Topf auf den Herd, dreht das Gas auf, und nach einem Klicken lodern mit leisem Puff blaue Flammen mit orangen Spitzen auf. Jetzt noch den Kaffee. Er schaufelt Pulver in den Filter, füllt den Wassertank und drückt auf den Knopf. Ein Licht blinkt erst rot, dann grün. Die ersten Tropfen fallen in die fleckige Kanne und tanzen zischend auf dem erhitzten Glas.
    Mit der ersten Tasse schwarzen Kaffees und zwei gepellten, weich gekochten Eiern geht er rüber zur Couch. Dort schiebt er die leeren Bierflaschen auf dem Tisch zur Seite, zieht das Schachbrett ein Stück nach vorne und betrachtet die Figuren. Er fühlt sich, als hätte er das Spiel vor einer halben Ewigkeit begonnen, als wäre es ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, doch er weigert sich, es einfach aufzugeben. Das Schachspiel selbst hat er in einem Ramschladen gekauft: ein schlecht verarbeiteter Holzkasten, der innen mit kariertem Stoff ausgekleidet ist und auf der Oberseite eine Einlegearbeit aus schwarzen und weißen Marmorquadraten, das eigentliche Schachbrett, aufweist. Die Figuren sind ebenfalls aus minderwertigem, stark geädertem Marmor geschnitzt, offenbar von einem Lehrling oder einem alten Mann mit zittrigen Händen. Sonst wäre das Set ja nicht so billig gewesen. Über Brett und Figuren hat sich eine dicke Staubschicht gelegt. Ian hat sie nie abgewischt, er wollte das Spiel nicht durcheinanderbringen. Dabei hat er es schon so oft angestarrt, so oft jeden einzelnen Zug im Kopf nachvollzogen, dass es auch nicht weiter schlimm wäre, wenn er die Figuren aus Versehen über den ganzen Boden verteilen würde. Er könnte sie binnen Minuten wieder korrekt aufstellen.
    Er ist am Zug. Seit drei Jahren schon. Seit über

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