Cop
drei Jahren, um genau zu sein. Genauso lang weiß er schon, wie sein nächster Zug aussehen wird. Nachdem er eine Stunde mehr oder weniger betrunken über dem Brett gebrütet hatte, war er sich sicher: Dame auf B4. Aber da war es schon zu spät, um noch anzurufen, selbst in Kalifornien, wo Jeffrey lebte, damals noch bei seiner Mutter Lisa. Deshalb verschob er den Anruf auf den nächsten Tag und fing lieber ein weiteres Zwölferpack Bier an, das ihn bei Laune hielt, bis die Sonne aufging und er zur Arbeit fahren musste. Inzwischen hat er klare Regeln aufgestellt – höchstens ein Sixpack im Apartment –, aber damals war er noch nicht so weit. Als er nach Hause kam, ließ die Wirkung des Alkohols allmählich nach, doch in seinem verkaterten Zustand konnte er unmöglich mit Jeffrey sprechen. Ein weiterer Tag verging. Und noch ein Tag. Eine Woche, sechs Monate. Und sollte er seinen Sohn etwa nach sechs Monaten Funkstille anrufen, um ihm zu sagen: Dame auf B4?
Jetzt hebt er die verstaubte schwarze Dame an und stellt sie auf ihr neues Feld. Er nippt an seinem Kaffee und betrachtet die veränderte Lage. Nur leider hat der Zug nicht stattgefunden, solange Jeffrey nicht davon erfährt. Ian zieht die Dame zurück und schiebt das Schachbrett zur Seite. Vielleicht wird er ihn später anrufen.
Er streut Salz und Pfeffer auf das erste Ei, schiebt es sich als Ganzes in den Mund und kaut gemächlich vor sich hin. Dann spült er den Brei mit einem Schluck Kaffee hinunter.
Es ist schon seltsam. Je länger man mit etwas wartet, desto schwerer fällt es einem. Statt die Dinge anzupacken, schiebt man sie vor sich her – man kann sich ja später noch drum kümmern, und irgendeine Ausrede findet man immer. Aber was man nicht erledigt, wird größer und größer, wie ein Schneeball, den man über eine verschneite Wiese rollt. Was man vorher noch einfach in die Tasche stecken konnte, ist irgendwann so groß und schwer wie ein ganzer Planet.
Ian rülpst und widmet sich dem zweiten Ei.
Kurz darauf betritt er den Fahrstuhl.
Das Gebäude, in dem er wohnt, war früher mal ein Hotel. Der alte Carl Dodd hatte es im Jahre 1924 errichtet. Aus unerfindlichen Gründen war er der festen Überzeugung gewesen, Bulls Mouth würde sich zur größten Stadt zwischen Houston und San Antonio entwickeln. Ein Irrtum. Seine Kinder Carney und Vickie, die das Hotel 1996 samt der Molkerei Dodd Dairy erbten, verkauften es auf der Stelle an einen Immobilienmakler aus Houston. Der Makler ließ die Hotelzimmer zu günstigen Apartments umbauen, vor allem für Studenten, die von zu Hause wegwollten. Das heißt, »Umbau« ist übertrieben – im Wesentlichen wurde das alte Schild über der Tür durch ein neues ersetzt. Und den Aufzug hat sich mit Sicherheit seit zwanzig Jahren kein Techniker mehr angeschaut. Heute ist es so weit, denkt Ian jeden Tag aufs Neue, heute reißen die Seile.
Mit einem Knarren schließt sich die Tür. Ian drückt auf den Knopf für das Erdgeschoss. Die Kabine erzittert, als hätte sie schon selber Angst, und setzt sich dann zögernd in Bewegung.
Als sich die Tür wieder öffnet, wirft er einen Blick auf die Uhr. In zwanzig Minuten muss er auf der Arbeit sein.
Maggie hat in der Nacht kaum geschlafen, weil sie ständig überlegt hat, wie sie hier rauskommen kann. Sie hat es mit Zählen versucht, aber es hat nicht funktioniert, sie hat dauernd den Faden verloren. Sie hat sich hin und her gewälzt, bis sie sich hoffnungslos in den Laken verknotet hatte. Sie fand einfach nicht die richtige Lage, und ihre Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen.
Jetzt ist es Morgen. Maggie steht auf Zehenspitzen unter dem Fenster und hält das Gesicht in die hellen Sonnenstrahlen. Die Wärme auf der Haut tut ihr gut. Wie gerne wäre sie wieder da draußen, wie gerne würde sie wieder das Laub und die Erde unter ihren Füßen spüren, die Vögel singen hören. Hören, wie die Luft zum Leben erwacht, wenn der heiße Sommerwind durch die Blätter fährt.
»Wenn du es noch einmal versuchst, bringt er dich um.«
Die Stimme kommt von links. Borden.
Sein Pferdekopf ragt aus der Dunkelheit, seine Nüstern blähen sich, ein einzelnes schwarzes Auge schimmert in dem bisschen Licht, das vom Fenster in die düstere Ecke sickert. Ansonsten sieht sie nur die Spitzen seiner Chucks. Alles andere liegt im Schatten.
»Ich glaube, du wärst nicht die Erste.«
Wie immer bewegt sich sein Mund nicht, wenn er spricht. Die Worte steigen aus seinem Kopf auf, verteilen sich in
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