Cop
Als er dem weiten Bogen der Straße entlang der Nordseite von Henry Deans Waldgrundstück folgt, kommt ihm ein Streifenwagen entgegen. Das Fahrzeug rollt langsam auf ihn zu, die Hupe ertönt, das Fenster gleitet herunter. Auf gleicher Höhe bleiben die beiden Wagen stehen.
Diego nickt Ian zu. Auf der Rückbank bellt ein Dackel.
»Was hat er denn angestellt?«, fragt Ian mit einem Blick auf den Hund.
»Versuchter Raubüberfall auf Sally’s Gun & Rifle.«
»Dann hat er es verdient, geschnappt zu werden. Wer ist denn auch so blöd, sich mit Sally anzulegen.«
»Niemand, der allzu sehr am Leben hängt.«
»Wie viel hat dir das Ganze bisher eingebracht?«
»Siebzig.«
»Und wie viele von den Viechern laufen noch rum?«
»Drei oder vier, glaub ich.«
»Na hoffentlich gibst du die ganzen Nebeneinkünfte auch bei der Steuer an.«
»Das sind keine Einkünfte. Wird doch alles gleich wieder versoffen.«
»Du trinkst doch schon seit fünf Jahren umsonst.«
»Seit vier Jahren. Außerdem gebe ich öfter mal einen aus. Wenn du ab und zu mal im Roberta’s vorbeischauen würdest, wüsstest du das.«
»Ich betrinke mich nicht mehr.«
»Und das Sixpack, das du jeden Tag bei Bill’s mitnimmst?«
»Von sechs Bier werde ich nicht betrunken.«
»Dann trink deine sechs doch im Roberta’s.«
»Ist mir zu teuer.«
»Wie gesagt, ich geb dir einen aus.«
»Ich denk drüber nach.«
»Hast du das von Genevieve gehört?«
»Was?«
»Sie hat ihn tatsächlich verlassen.«
»Wirklich?«, sagt Ian. »Gut zu hören.«
»Ja, aber komisch ist das schon. Andy war gestern Abend im Roberta’s. Er hatte eine dicke Beule an der Schläfe, und die Haut war richtig aufgeplatzt. Aber er wollte einfach nicht verraten, was passiert war.«
»Hmm. Komisch.«
»Irgendwie ist mir da eingefallen, was du neulich gesagt hast. Dass man mal was anderes versuchen sollte.«
»Kann mich nicht erinnern, das gesagt zu haben.«
»Ian …« Diego befeuchtet sich die Lippen. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Ian wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss weiter. Die Arbeit ruft.«
»Hey, hör mal …«
Doch Ian kurbelt schon das Fenster hoch, legt den Gang ein und fährt los. Als er in den Rückspiegel schaut, steht Diegos Wagen immer noch mit leuchtend roten Rücklichtern auf der Fahrbahn.
Sieben Minuten später hat er das Polizeirevier erreicht.
Um drei Uhr nachmittags geht Ian kurz vor die Tür. Er muss einfach mal weg vom Schreibtisch. Auf dem Parkplatz greift er in den Wagen und zieht einen Zigarrenstummel aus dem Aschenbecher. Dann reißt er ein Streichholz an, gibt sich Feuer und bläst eine blaue Rauchwolke aus dem Mundwinkel, während er mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne blickt. Er könnte jetzt was zu essen vertragen. Am besten schaut er gleich mal nach, was noch so im Kühlschrank rumliegt. Wenn er sich recht erinnert, hat er am Montag eine halb volle Schachtel Hähnchen süß-sauer reingestellt; die sollte eigentlich noch da sein, falls sich keiner seiner Kollegen dran vergriffen hat. Was in dem Laden hier aber gar nicht mal so unwahrscheinlich ist.
Aber wo er schon mal hier draußen ist, kann er gleich noch einen Anruf erledigen. Genauer gesagt zwei Anrufe, wobei sich der zweite unmittelbar aus dem ersten ergibt. Privatanrufe sind im Büro nicht gern gesehen. Also zieht er sein Handy aus der Tasche und scrollt sich durch die Kontakte, bis er fündig wird.
Das Freizeichen ertönt, insgesamt dreimal, gefolgt von einem: »Hallo?«
Nein, eigentlich vermisst er Lisa nicht – aber sobald er ihre Stimme hört, trauert er seiner Vergangenheit nach, einer Zeit, in der seine Zukunft noch vor ihm lag, alles noch möglich war. Als sie sich kennenlernten, war er zweiundzwanzig Jahre alt.
Und trotzdem hatte er schon eine Ehe – und eine Scheidung – hinter sich. Seiner ersten Frau Mitsuko war er in einem Zug der Pariser Metro begegnet. Sie hatten sich Blicke zugeworfen, während sie durch den dunklen Untergrund schossen, auf dem Weg zur Rue du Sentier, wo sie beide ausstiegen. Bald wurde ihnen klar, dass sie zum Abendessen ins selbe Restaurant wollten. Im ersten Stock des Chartier, gleich neben der Treppe, gab es noch einen Tisch für zwei. Wann immer ein Kellner vorbeilief, musste Ian die Ellenbogen einziehen, und trotzdem wurde er dauernd angerempelt, weil der Besteckwagen an der Wand direkt gegenüber stand. Normalerweise hätte er sich darüber aufgeregt, doch Mitsuko lachte jedes Mal und sagte dabei: »Dein
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