Cop
erwachsen geworden ist? Als wäre er davon ausgegangen, Jeffrey würde immer der bleiben, der er damals war, konserviert wie eine Fliege im Bernstein, so lange, bis Ian bereit sein würde, seine Vaterrolle wieder zu übernehmen. Aber so läuft es eben nicht. So ist es noch nie gelaufen.
»Und als was arbeitest du?«
»Ich bin Redaktionsassistent bei einer Realityshow, einer dieser dämlichen Datingsendungen. Eigentlich schiebe ich nur Filmfetzen auf dem Schnittsystem hin und her. Aber sorry, ich hab jetzt wirklich keine Zeit. Danke, dass du angerufen und mir das von Maggie erzählt hast.«
»Okay.« Ian überlegt einen Moment. »Hey, weißt du noch? Unsere Schachpartie?«
»Ja? Was ist damit?«
»Dame auf B4. Und der nächste Zug wird nicht so lang auf sich warten lassen, das versprech ich dir.«
»Es gibt keinen nächsten Zug, Dad. Ich hab das Spiel vor Jahren weggeräumt.«
Klick.
Ian nimmt das Handy vom Ohr und blickt auf das Display. Anrufdauer: 3:53. Nicht mal vier Minuten.
Er hat alles falsch gemacht. Er hätte niemals von dem gottverdammten Schachspiel anfangen sollen. Er hat alles falsch gemacht.
Ian lässt die Zigarre fallen und zerdrückt sie mit dem Absatz, dann schiebt er das Telefon in die Tasche zurück, geht rein und setzt sich wieder an den Schreibtisch. Jetzt bekommt er sowieso keinen Bissen mehr herunter.
Maggie geht zur Treppe, bückt sich und blickt in das Dunkel unter der ersten Stufe. Sie will nicht in die Schatten greifen, sie fürchtet sich davor, doch sie schluckt ihre Angst herunter und streckt die Hand in die Finsternis.
Und findet nichts. Keine selbst gebastelte Waffe.
Ihre Finger streichen über kalten Beton. Da ist nichts. Borden hat das Messer geklaut, denkt sie sofort. Er hat es geklaut und versteckt oder kaputt gemacht oder ist damit zu Henry gelaufen, und Henry wird sie bestrafen, er wird sie mit ihrem Messer bestrafen. Borden wird dafür sorgen, dass sie niemals hier rauskommt, dass sie bis in alle Ewigkeit im Albtraumland gefangen ist, allein mit ihm und den feuchten Schatten, die sich nach und nach über alles ausbreiten werden.
Aber dann fällt ihr wieder ein, dass Borden gar nicht existiert, er ist eine Einbildung. Sie selbst hat ihn sich ausgedacht, und ausgedachte Wesen können einem nicht wehtun. Außer man erlaubt es ihnen.
Aber was, wenn Henry das Messer gefunden hat?
Vielleicht hat er geahnt, dass sie etwas im Schilde führt, vielleicht hat er sich letzte Nacht in den Keller geschlichen und es an sich genommen. Und jetzt sitzt er oben und überlegt sich, wie er sie bestrafen soll. Er könnte jeden Moment runterkommen, um sie mit dem blutigen gelben Seil an den Bestrafungshaken zu binden, und während sie an den Handgelenken gefesselt über dem Boden baumelt, wird er ihr mit der scharfen Kante der Scherbe über den Bauch fahren, über die Kehle, überall, wo ihre Haut besonders weich ist, und dann …
Eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht.
Beruhig dich, Maggie. Das Messer muss hier sein.
Denn letzte Nacht war hier niemand. Sie hätte es gehört und wäre aufgewacht. Niemand hat es gefunden. Also muss es hier sein, unter der Treppe.
Da stößt sie mit den Fingerkuppen an den hölzernen Stiel. Schnell greift sie zu, zieht die Waffe aus dem Schatten und springt auf.
Das selbst gebastelte Messer fühlt sich gut an. Gut und stabil und gefährlich.
Maggie schaut zum Fenster. Die Sonne ist bereits auf die andere Seite des Hauses gewandert, die Schatten legen sich über den Boden wie eine Picknickdecke. Der Tag ist kaum gekommen, und schon geht er wieder. Er hat den Rückzug angetreten. Früher hat sie sich gefürchtet, wenn die Sonne auf die andere Seite der Erde wanderte. Das, was sie durch dieses eine Fenster sieht, ist alles, was sie von der Welt kennt, und wenn das Licht verlischt, verschwindet auch diese Welt. Aber diesmal freut sie sich auf die Nacht, diesmal sehnt sie sich nach dem Sonnenuntergang. Und nach den Geräuschen, die dazugehören – wie die Haustür hinter Henry ins Schloss fällt, wie der Motor seines Pick-ups anspringt, wie die Reifen auf dem Schotter der Einfahrt knirschen und sich entfernen.
Doch Donalds Auto ist noch nicht vor seinem Wohnwagen vorgefahren. Allzu spät kann es also nicht sein. Aber lange hin ist es auch nicht mehr. Eine Stunde vielleicht, oder zwei oder drei, sicher nicht länger. Bald wird sie wissen, ob Donald hier bei Beatrice oder drüben im Wohnwagen isst. Meistens isst er drüben und Beatrice oben vor dem
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