Cop
Angst steht ihr besonders gut. Schmutzig blondes Haar, volle Lippen, schöne breite Hüften. Wirklich schade drum, aber es geht nicht anders. Er muss es tun.
Offensichtlich ist sie vom Schock gelähmt, denn sie rührt sich nicht. Seit ihrem Schrei hat sie keinen Laut mehr von sich gegeben, obwohl ihr Mund leicht geöffnet ist. Hin und wieder zuckt ihr linkes Auge, ansonsten ist sie zur Statue gefroren.
»Du weißt, was gleich passieren wird«, sagt Henry. »Wahrscheinlich ist es kein großer Trost, aber wir sind gute Christen. Wir werden an deinem Grab für dich beten.«
Ein schwaches Ächzen dringt aus Naomis Kehle.
Und Henry stürzt sich auf sie.
Doch die nächsten paar Sekunden verlaufen nicht, wie er es sich vorgestellt hat. Auf halbem Weg werden seine Füße abrupt gestoppt, während sein Oberkörper weiter nach vorne schießt. Er segelt durch die Luft, kippt in die Horizontale und kracht dann mit dem Kinn voran auf den Boden. Seine Zähne knallen aufeinander, er beißt sich seitlich auf die Zunge. Das Steakmesser rutscht ihm beim Aufprall aus der Hand.
Hektisch blickt er sich um. Durch den Tränenschleier vor seinen Augen hindurch sieht er Sarah, wie sie unter dem Tisch hockt, das rechte Bein ausgestreckt.
»Lauf!«, schreit sie und meint anscheinend Naomi. »Lauf und hol Hilfe! Schnell, sonst bringt er dich um!«
Naomi erwacht aus ihrer Erstarrung. »Oh«, sagt sie, bevor sie sich umdreht, zur Hintertür rennt und am Knauf zerrt. Abgeschlossen. Mit panischen Augen schaut sie sich um, sperrt hastig auf, reißt an der Tür, stürzt ins Freie und verschwindet in der schwarzen Nacht.
Henry krabbelt zum Tisch und schlägt Sarah ins Gesicht. »Scheiße, was hast du dir dabei gedacht?«
Ihre Lippe ist aufgeplatzt, Blut läuft über ihr Kinn. Doch sie sagt nichts, weicht seinem Blick aber auch nicht aus. Sie schaut ihm einfach in die Augen und blutet vor sich hin.
Ohne nachzudenken, steht er auf, zerrt sie unter dem Tisch hervor und hebt den rechten Stiefel über ihren Kopf. Er wird ihr beschissenes Gesicht zu Brei zerstampfen, er wird dafür sorgen, dass sich das kleine Miststück selber nicht mehr wiedererkennt, oh ja, das wird er tun. Das wird ihr eine Lehre sein, beim nächsten Mal wird sie sich zweimal überlegen, ihm …
»Henry!«
Beatrice hinkt um den Tisch herum, wirft sich auf ihre Sarah und schließt sie in die Arme. »Das hat er nicht so gemeint.« Sie streichelt ihr den Kopf und sieht ihn an. »Sag ihr, dass du das nicht so gemeint hast. Bitte, Henry.«
»Pass auf, dass sie nicht abhaut.« Damit dreht er sich um, hebt das blutige Steakmesser auf und sprintet zu der Tür hinüber, durch die Naomi verschwunden ist. Sollte sie es bis zu den Nachbarn schaffen, werden sie Flints Pick-up nicht benutzen können. Und er hat wirklich keine Lust, diese ganze Scheiße hier noch einmal durchzuziehen.
Er sucht mit den Augen den Horizont ab, bis er in einiger Entfernung ein gelb erleuchtetes Fenster entdeckt. Und davor: Naomi. Sie rennt darauf zu, stolpert, fällt hin, rappelt sich wieder auf und rennt weiter.
Henry nimmt die Verfolgung auf.
Ian sitzt im Dunkeln, ein Küchenbeil auf den Knien. Den Mustang hat er hinter dem Wohnwagen geparkt, wo Donald ihn nicht sieht, wenn er in seinem El Camino vorfährt. Jetzt kann er nur noch warten. Früher, vor gar nicht mal so langer Zeit, hätte er niemals tun können, was er – falls nötig – gleich tun wird. Aber das war mal, es ist Vergangenheit, eine Vergangenheit, die immer kleiner wird, je weiter er sich in die Zukunft bewegt.
Er denkt an seinen Besuch bei Andy Paulson, an den Moment, als ihm klar geworden ist, dass er seine Drohung wahr machen könnte. Er hat sie nicht wahr gemacht, aber was er jetzt vorhat, wird er vielleicht wahr machen. Sollte er wirklich bis zum Letzten gehen, wird er einen hohen Preis zahlen müssen: Er wird danach nicht mehr derselbe sein. Aber das, denkt er, ist es ihm wert. Genau wissen kann er es natürlich nicht, dafür muss er den Preis tatsächlich erst gezahlt und den Gegenwert bekommen haben. Doch er ist sich ziemlich sicher.
Draußen knirschen Reifen auf dem Kies. Ein Motor wird abgestellt, eine Wagentür geöffnet und wieder zugeschlagen. Schritte nähern sich, erst auf dem Schotter, dann auf der morschen Treppe vor dem Eingang. Der Knauf dreht sich, die Tür schwingt nach innen. Ein Schatten tritt ein.
Ians Finger schließen sich um den Griff des Beils. Er steht auf, dreht die stumpfe Kante nach unten, hebt das Beil
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