Copyworld: Roman (German Edition)
Zweifels? Er kann doch
nicht wissen, was ganz im Verborgenen im Kopf des Zöglings Hyazinth Blume
vorgeht! Außerdem kämpft Hyazinth dagegen an, besinnt sich jedesmal rechtzeitig
auf die Generalgebote, erlebt es auch immer als eine Befreiung aus der
Umklammerung finsterer Mächte, wenn er auf den Weg der Lehre zurückfindet. Und
vor allem: All das geschieht doch nur in seinem Denken, höchstens Opal ahnt
dunkel, welche Kämpfe sein Lieblingsschüler mit sich austrägt. Opal? Nein, der
würde ihn nie denunzieren…
Plötzlich wird ihm bewußt, daß
der Exarch ihn schon eine Weile
schweigend beobachtet, und wieder zuckt er zusammen als sei er bei einem Frevel
ertappt worden.
Die Augen Korund Steins dringen
in ihn wie medizinische Sonden, und es ist ein rätselhafter Ausdruck in ihnen,
viel weniger bedrohlich als schmerzerfüllt.
“Kennst du die Sage vom
Göttervogel Garuda?” fragt Korund leise, mit deutlich unterdrückter Erregung.
Hyazinth atmet erleichtert auf:
Endlich gelangt er auf sicheres Terrain, natürlich kennt er diese seltsame
Geschichte aus dem Mahabharata. Tante Sirrah hatte sie ihm wenigstens ein
dutzend Mal erzählen müssen, denn er konnte nicht oft genug hören, wie die
Liebe zur Mutter dem Vogelgott die Kraft gab, selbst gegen den grausamen Indra
zu bestehen. Und auch das Rätsel um den Unsterblichkeitstrank beschäftigte den
Knaben Hyazinth so sehr, daß er das Mahabharata unzählige Male vorwärts und
rückwärts las, nach Anagrammen durchstöberte und vergeblich nach anders
verschlüsselten Texten suchte - in der heimlichen Hoffnung, die Rezeptur des
Amrita zu finden. Als er das seinerzeit bei einer der zahllosen Vorladungen zum
Ersten Kindschafter beichtete, um von einer schlimmeren Untat abzulenken - er
hatte gemeinsam mit Tagetes ein winziges, aber optisch ungemein effizientes
Loch in die Trennwand zwischen den Umkleideräumen der Mädchen und der Knaben
gebohrt, wozu sie erst einen Mikrolaser stehlen mußten - als er also von seinen
verbotenen Privatstudien redete, da strich ihm Korund Stein nur wohlwollend
über den Kopf und sprach: “Dein keimender Verstand wendet sich früh den
wesentlichen Dingen des Lebens zu... wie könnte ich dich dafür strafen...”
Hyazinth schwitzte damals Blut und Wasser, glaubte er doch, der Lehrer für Körpertheorie und Körperpraxis hätte seine
Urheberschaft an jenem raffiniert berechneten Loch herausgefunden. Wer konnte aber
auch voraussehen, daß irgend so ein Trottel sich gegen den Sensor für die
Beleuchtung lehnt! Das Licht im Umkleideraum ging aus, erst war es stockdunkel
- und dann erschien auf der dem Loch gegenüberliegenden Wand das zwar
kopfstehende, jedoch gestochen scharfe Abbild knackiger Mädchenleiber. Aus
irgendeinem Grunde mußte der Kittpfropfen aus dem Loch gefallen sein, und die
von Hyazinth und Tagetes in tagelanger Mühe berechnete Camera obscura
offenbarte sich im denkbar ungünstigsten Augenblick ganz von selbst der
Öffentlichkeit...
“Erzähle die Garuda-Sage!”
verlangt der Erste Exarch heftig. Wenige
Sekunden zögert Hyazinth erstaunt. Dann aber schließt er die Augen und sieht
Garuda über die Welt schweben, Garuda, dessen Gefieder heller als die Sonne
strahlt…
“Durch List machte Kadru ihre
Schwester Vinata zur Sklavin, und diese mußte ihr jeden Wunsch erfüllen. Als
Vinata aber ihr Sohn Garuda geboren war, da wollte der Sohn wissen, weshalb die
Mutter und er dem Schlangengezücht seiner Tante Kadru wie Sklaven dienen
müssen, und er erfuhr von Betrug und Tücke, vermochte es aber nicht zu ändern.”
Hyazinth erzählte von dem
Vertrag, den Garuda mit den Schlangen schloß, wie er versprach, den Göttern den
Unsterblichkeitstrank zu rauben, wenn er dafür die Freiheit seiner Mutter
zurückerhielte. Ein unvergleichlicher Kampf zwischen Garuda und den Göttern
entbrannte um den Besitz des Amrita. Tausendmal hat Hyazinth sich diesen Krieg
ausgemalt, ist er in seinen Träumen als Garuda über das Götterheer gekommen, um
den Amrita zu erbeuten. Jedesmal war er beseelt von jener geheimnisvollen
Kraft, dieser Liebe zu einer Frau, deren Schoß ihm nicht Pfad ins Reich der Lust war, sondern jenes
Tor, durch das ein Mensch aus dem Nichtsein heraustritt in die Welt. Und oft
hatte er sich gewünscht, Sirrah sei eine solche Frau für ihn, aber dann kam
alles ganz anders, war es gerade Sirrah, die ihm den Weg in den Taumel der Lust
wies, und danach war Garuda nur noch der Schatten einer Erinnerung und das
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