Copyworld: Roman (German Edition)
und Recht auf
Persönlichkeit – er sprach immerzu über die Rechte des Individuums und verlor
keine Wort über jene der ganzen Gemeinschaft. Mit jedem Satz wuchs in Hyazinth
Abscheu. Was für ein Fossil! dachte er angeekelt. Welch ein Ungeziefer, das
sich hier zusammengerottet hat!
Dem Rest der Veranstaltung folgte
er mit äußerster Konzentration, aber auch mit ebensolcher Kälte, ohne jede
Leidenschaft. Hin und wieder erwachte Ärger in ihm, als es um die zwölf
Generalgebote ging, aber er unterdrückte ihn mit eiserner Disziplin, bevor er
sich zum Haß auswachsen konnte. Emotionen waren fehl am Platz, nur nüchterner
Verstand konnte Gewähr für wertvolle Erkenntnisse bieten. Bereits beim ersten
Generalgebot mußte er seine Gefühle zügeln: Dein Denken soll eins sein mit der
Lehre von der Großen Umkehr. Alles ist zusammengefaßt in diesen Worten, was den
moralischen Kodex der Märtyrer ausmacht. Aber da erdreistete sich doch jemand
ernsthaft, folgende Neufassung vorzuschlagen: Bewegungsweise deines Denkens
kann nur der Widerspruch sein. Und derselbe forderte in einem Atemzug die
Formel “Du sollst alle Zweifel an der Lehre aus dir reißen, denn sie verwirren
dein Denken” durch das Gebot zu ersetzen: “An allem ist zu zweifeln, nur so
kann menschlicher Geist sich der Wahrheit nähern.”
Diszipliniert kämpfte Hyazinth
seine Empörung nieder, dabei hätte er fast den nächsten Punkt jener
lästerlichen Deklaration verpaßt:
“Du sollst die Älteren achten und
ihnen gehorchen, denn sie besitzen Weisheit und Wahrheit der Lehre.”
Die Kämpfer der letzten Stunde
hielten dem entgegen: “Achte jeden, der nach Weisheit und Wahrheit ehrlichen
Herzens strebt, denn er ist dein Bruder”.
Inzwischen konnte Hyazinth nicht
einmal diesen an sich akzeptablen Gedanken gutheißen – es war wieder der
Kontext, der aus einem guten Wort den Aufruf zum Widerstand machte.
Prüfe dich täglich: Warst du der
Lehre treu, warst du aufrichtig gegen die Älteren, hast du geübt, was du
lerntest? Oft genug hatte Hyazinth gegen dieses vierte Generalgebot verstoßen –
aus Leichtsinn und Sorglosigkeit, wie er jetzt wußte. Was aber forderten die Rebellen!
Prüfe dich täglich: Hatte ich die
Kraft zur schöpferischen Kritik am Bestehenden, begegnete ich Zweifeln
aufrichtig, habe ich kompromißlos befragt, was ich lernte?
Das war doch der Aufruf zum
Umsturz!
Beim zehnten Generalgebot wollte
er aufspringen und seinen Protest herausschreien. Im allerletzten Augenblick
gelang es ihm, den Ausbruch zu unterdrücken.
Wache über deinen nächsten, damit
er nicht abirrt vom Weg der Lehre.
Ohne jeden Zweifel das Wichtigste
aller Gebote. Klare Anweisung zum Handeln. Nicht die Strafe liegt im Interesse
der Gesellschaft, sondern der Schutz ihrer Mitglieder vor Straffälligkeit – ein
großes moralisches Prinzip! Und das wischten diese Verbrecher mit einer
Überheblichkeit vom Tisch, die wahrlich nur aus einem kranken Geist kommen
konnte. Hyazinth erinnerte sich spontan der Worte des Exarchen, die
Deformationen des menschlichen Wesens realisierten sich vor allem auch im
psychischen Bereich, und gerade dieser Kranken müsse man sich mit besonderer
Sorgfalt annehmen. Wie böse mußte es um die DTEA bestellt sein, wenn sogar in
der Zentralstadt so viele Fälle von genetischer Indisposition auftraten!
Innerhalb einer genetischen Quarantänezone, in der Menschen nicht auf
animalische Weise gezeugt und geboren, sondern präzise konstruiert werden!
Hyazinth schauderte es. Auf einmal verstand er die wahre Größe des Projektes
Copyworld : Rettung vor dem tödlichen Niedergang konnte wirklich nur dieses
grandiose Vorhaben bringen!
Irgendwie beruhigte es sein
Gewissen, Holunder auf der Seite der Verräter zu wissen. Die Entscheidung
Rutilas – es war doch ihre Entscheidung gewesen, nicht seine – war somit
hinreichend gerechtfertigt, womöglich ahnte oder wußte sie sogar von den
konspirativen Aktivitäten ihres Partners. Für einen Märtyrerschüler, der für die
Perspektive als Protektorgeneral ausgebildet wurde, wäre dies nur logisch. Zwar
war Rutila nicht der einzige Kader, der auf diese wichtige Aufgabe vorbereitet
wurde, aber ihre Chancen standen gut, denn die drei oder vier Dutzend
Mitbewerber zeichneten sich nicht gerade durch auffällige Intelligenz aus. Das
mußte in diesem gesellschaftlichen Bereich wohl Tradition sein. Sie würde gewiß
eines Tages der Befehlshaber der Schutzgarde sein, daran hatte Hyazinth nie
gezweifelt.
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