Copyworld: Roman (German Edition)
erwartete, und ebenso rasch
glätten sie sich wieder zu weicher, harmonischer Form.
Wozu Hyazinth sonst ein Höchstmaß
an Konzentration und Kraftanstrengung brauchte, geschieht heute wie von selbst.
Der Tanz ist stärker als der Tänzer, er ist nicht Resultat eines Willensaktes –
er geschieht einfach, tanzt den Tänzer…
Die von der Sitar ausgesandten
Sonnenstrahlen prasseln auf ihn herab, im Klang der beiden Trommeln Tabla und
Baya hört er das Glucksen des seine Wurzeln umspülenden Wassers. Hyazinth
streckt sich zur voll entwickelten Pflanze, aus den Knospen seiner Schultern
wachsen Äste, verzweigen sich in den Fingern. Prachtvoll entfalten sich seine
Blüten.
Wie ein Derwisch kreiselt er um
seine Achse, unaufhörlich wachsend, und mit einem gewaltigen Schrei der Freude
und der Lust schleudert er seine Samenkörner von sich, hinaus in die Welt. Sie
fliegen durch die Helligkeit der Musik wie Boten, die seine Unbezwingbarkeit
verkünden.
Jubelnd reckt und streckt er
sich.
Dann aber überkommt ihn eine
seltsam angenehme Ruhe. Er schaut um sich und sieht, wie die Erde seinen Samen
aufnimmt und ihn sicher umhüllt.
Das ist es also, denkt die
Pflanze Hyazinth, das ist die Erfüllung all meiner Sehnsüchte, warum begreife
ich das erst jetzt, nachdem ich eine Ewigkeit vergebens suchte und schon nicht
mehr glaubte, die Antwort je zu finden?
Unmerklich weicht die ungestüme
Kraft aus den unzähligen Blättern, zieht sich in sein Inneres zurück und
wandelt sich dort zu einem Gefühl tiefer Zufriedenheit. Kaum nimmt er wahr, wie
er zu welken und zu verdorren beginnt.
Hyazinths Tanz wird ruhig und
gemessen, fast kraftlos, will es scheinen. Dafür ist jede seiner sparsamen
Gesten wie eine ganze Geschichte, wo die Bewegungen vor wenigen Sekunden nur
Wörter, Gedanken und Gefühle bedeuteten.
Er sinkt still in sich zusammen,
doch es ist nicht Untergang, sondern ein Abschied ohne Schmerz und Wehmut.
Alles ist erlebt und gesagt.
Alles? Noch einmal streckt sich die Pflanze, ein letztes Mal, dem Licht
entgegen, nur um zu prüfen, ob da womöglich doch etwas übersehen, vergessen
wurde. Und Hyazinth sieht winzige, hellgrüne Spitzen aus dem Erdreich brechen.
Er spürt kaum, wie er den Tod der
Pflanze tanzt, nimmt auch nicht wahr, daß die Musiker längst seinem Tanz
folgen, und nicht er der Musik. Irgendwie ist diese Unterscheidung völlig
bedeutungslos geworden, da beides zu einer Einheit verschmolzen ist. Nie zuvor
hat Hyazinth so etwas erlebt, niemals für möglich gehalten: Daß Musik sich in
der freien Improvisation zum Bestandteil eines komplexen Kunstwerks zu wandeln
imstande ist.
Da auf einmal schwankt der Boden
unter seinen Füßen. Hyazinth greift haltsuchend um sich, denn plötzlich scheint
sich alles um ihn herum zu drehen, Farben und Formen zerfließen, als würde die
Welt in großer Hitze schmelzen und zerlaufen. Und dann sieht er etwas völlig
unbegreifliches: Ein riesiges Pendel schwingt knarrend und ächzend unter der
Kuppel einer Halle wie der Schlegel in einer Glocke. Die Luft braust und jault
wie in einer Turbine. Tosende Energieströme scheinen unter der Kuppel zu
wirbeln und in die Welt hinaus zu jagen. Etwas so unfaßbar Gewaltiges hat er
vorher nie zu Gesicht bekommen, und eine innere Gewißheit sagt ihm, daß er sich
hier an jenem Ort befindet, wo die Zeit ihren Ursprung und ihr Ende hat. Als
die Vision verblaßt und schließlich ganz verschwindet, schüttelt Hyazinth
benommen den Kopf.
Himmel und Hölle, da habe ich
mich ja fast selbst hypnotisiert. Ich muß aufpassen, darf nicht die Kontrolle
über mich verlieren - die meditative Macht dieses Tanzes ist ja noch größer als
ich geahnt habe...
Das Publikum verharrt in
Schweigen. Hyazinth strafft sich, fühlt auf einmal den rasenden Herzschlag und
ringt keuchend nach Atem – gerade das Ende des Tanzes hat viel Kraft gekostet.
Das schwindende Leben der Pflanze in bizarren Posen auszudrücken, mit immer
wieder aufzuckenden und ersterbenden Körperwellen, zwang ihn zur Hergabe all
seines Könnens.
Endlich beginnen sie zu
klatschen. Sie brüllen und schreien nicht wie sonst. Aber der Applaus schwillt
an zu einem Brausen und Tosen, wie er es in der autosuggestiven Vision gerade
von dem Pendel gehört hatte. Mit ernsten, betroffenen Mienen stehen sie da und
applaudieren ihrem Idol. Deutlich sieht Hyazinth den Gesichtern an, daß sie
versuchen, mit dem Verstand zu erfassen, was das Gefühl ihnen längst offenbart
hat. Selbst ihm war es ein
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