Copyworld: Roman (German Edition)
Wölkchens weichen Hautlappen zu steigen. Dann
schläft er ein dutzendmal wieder ein, um mitunter schon nach wenigen Sekunden,
die ihm wie Stunden vorkommen, gleich wieder aufzuwachen. In diesen kurzen
Augenblicken träumt er für gewöhnlich das dümmste Zeug, aber manchmal so
deutlich und plastisch, daß er noch einige Zeit danach im Unklaren darüber ist,
ob alles tasächlich nur im Traum oder in Wirklichkeit geschah.
Er will sich verschlafen die
Augen reiben, kann aber seine Arme nicht bewegen, so sehr er sich auch müht.
Also doch wieder so ein blöder
Traum, denkt er und reißt mit aller Macht die Augenlider auseinander. Aber das
Bild über ihm ändert sich nicht. Wie eine tausendarmige Spinne schwebt über ihm
der Korpus eines Diagnosesystems, mit unzähligen Sensoren an langen Gliederbeinen,
mit biegsamen Lichtleiterdrähten der verschiedensten Endoskope und
vielgestaltigen Manipulatoren an tentakelartigen Instrumententrägern.
“Verflucht, heute komme ich aber schwer in die Senkrechte!” murmelt er
verdrossen und streckt sich. Doch sein ganzer Körper ist wie gelähmt, und
allmählich wird ihm bewußt, daß er von den Fesselklauen auf der Plattform
gehalten wird.
“Ruhig Hyazinth Blume, die
Wirkung der Narkose ist gleich vorüber.” Die Stimme kommt ihm bekannt vor, und
er versucht, den Kopf nach links zu drehen, aber auch der wird von den Klauen
fest in seiner Lage gehalten. “Ruhig, Hyazinth Blume, es ist alles vorbei,
gleich schalte ich das Diagnosesystem ab, und du kannst dich wieder frei
bewegen.” Eine warme Frauenstimme, die Hyazinth sofort Vertrauen einflößt, ihn
dunkel an die Zeit in der Lebensquelle erinnert.
“Tante Sirrah?” fragt er
erstaunt.
“Du sollst nicht mehr Tante zu
mir sagen! Ich bin erst achtunddreißig Jahre alt, du Schlingel – ich darf doch
noch du sagen?”
“Nur, wenn du mir erlaubst,
weiter Tante zu sagen!” Hyazinth lacht erlöst auf. Nein, das darf einfach kein
Traum sein! Sirrah Stern war im letzten Quelljahr seine Kindschafterin und –
seine erste große Liebe. Alle Knaben haben Tante Sirrah geliebt, und auch viele
Mädchen, aber niemand so stürmisch und leidenschaftlich wie Hyazinth. Beinahe
hätte sie seinetwegen die Arbeit aufgeben müssen, Korund Stein war seinerzeit
sehr wütend, und manch einer wollte wissen, er sei eifersüchtig gewesen… Aber
das kann Hyazinth nicht glauben von dem Mann, der wenig später Erster Exarch
und Ehrenmärtyrer wurde. Nein, Korund Stein hatte wohl recht mit seinem Zorn,
denn gewiß war es verkehrt, was Sirrah Stern damals tat, um Hyazinth zu helfen.
Und einen weniger schwärmerisch veranlagten Jungen hätte sie damit
möglicherweise ins Unglück gestürzt.
Hyazinth war krank. Kaum hatte er
etwas gegessen, mußte er sich übergeben, er wurde mager und schwächlich, konnte
sich kaum noch auf den Unterricht konzentrieren. Die Quellärzte standen vor
einem Rätsel. Kein Wunder, denn es war weniger eine Krankheit des Leibes als
eine der Seele. Jede Nacht heulte Hyazinth, war doch selbst dem Zwölfjährigen
deutlich bewußt, daß seine Leidenschaft für die wunderschöne Kindschafterin
ohne jede Hoffnung bleiben mußte. Es brannte und lohte in ihm wie es eben nur
im Herz eines Knaben brennen und lohen kann, der an der Schwelle zwischen
Kindheit und Erwachsensein angelangt ist. Er war in jenem Alter, wo einem das
erste Mal deutlich bewußt wird, daß Menschen sterbliche Wesen sind, wo einen
die Sehnsucht nach dem Tod als einzigem Ausweg aus allem Leid mit solcher Wucht
überkommt, daß man allein vom Gedanken daran vor Rührung sterben könnte, wo
animalischer Lebenswille erstmals auf den Widerstand der Wirklichkeit prallt
und die Kämpfe elementarer Urgewalten die winzige Seele zu zerfetzen scheinen,
in Wahrheit jedoch nur kleine Kratzer hinterlassen, die der erwachsene Mann
nicht missen möchte. Als seien es wie die Narben eines urzeitlichen Kriegers
Erinnerungen an heldenhaft bestandene Prüfungen.
Endlich merkte irgendjemand, daß
Hyazinth nachts nicht mehr schlief, und ein alter Quellarzt aus der Familie
Wasser empfahl, jeden Abend spazieren zu gehen, bis die Füße schmerzten. Es
wurden Hyazinths schönste Stunden: Der Tag konnte nicht schnell genug
vorübergehen, er aß mit Bärenhunger, wurde wieder der Beste seiner Kindschaft,
obgleich er wie im Fieber lebte. Denn am Abend wartete Sirrah Stern auf ihn.
Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm durch Villafleur. Solange die
Zentralstadt im Diamantfeuer ihrer
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