Copyworld: Roman (German Edition)
Lichter funkelte, zeigte sie ihm die Heimat
der Märtyrer, und Hyazinth lernte die Stadt in diesen Wochen lieben. Der Abend
begann aber erst richtig für ihn, wenn mit einem Schlag die Dunkelheit wie ein
schwarzer Regen vom Himmel fiel und das Flimmern und Glitzern auslöschte. Dann
erzählte Sirrah unheimliche und doch unendlich schöne Geschichten von der
Erschaffung der Welt, wie sie vor tausenden von Jahren von den Menschen
erfunden worden waren: Von Nüwa, der Riesin, die einen Riß im Himmel mit
blinkenden Sternen verschloß und vor Entkräftung starb, vom letzten Titanen
Chronos, davon, wie Enlil Himmel und Erde trennte, oder vom Kampf Marduks gegen
die Urmutter Tiamat. Sie erzählte von Zikkurats und Tempeln, vom Olymp und von
Walhalla. Am besten aber gefiel Hyazinth die Legende vom Vogelgott Garuda, der
den Göttern den Lebenstrank Amrita raubte, um seine Mutter damit freikaufen zu
können.
Eines Tages ergab es sich, daß
sie ein eiskalter Sturm überraschte, einer von der Art, wie sie nicht selten
nach Mitternacht aus der Wüste heranjagen. Völlig durchfroren erreichten sie
ihren Trägerkern, und da Hyazinth unbedingt erfahren wollte, weshalb Baal einen
Palast wie seine göttlichen Brüder brauchte, wo er doch den größten Trinkbecher
der Welt besaß – da nahm sie ihn kurzerhand mit in ihre Wohnblase. Dort krochen
sie zwischen die Hautlappen ihrer Wollbauchechse, und Sirrah erzählte von Baals
Schwester Anat, die ihrem Vater El drohte, seinen grauen Bart in Blut zu
tauchen, wenn er Baal die Bitte nicht erfüllen wollte. Hyazinth drängte sich –
immer noch frierend – an sie und spürte das erste Mal in seinem noch kurzen
Leben die Wärme eines Frauenkörpers. Und als Sirrah flüsternd erzählte, was
Baal mit dem Jungrind tat, das ihm auf dem Weg in das Reich Mots begegnete, da
drang ihm ihre Wärme bis zwischen die Lenden. Und er wurde ein Mann. Sirrah
kicherte atemlos, als sein blindes Suchen den einzig möglichen Weg fand…
Hyazinth erinnert sich plötzlich
an einen Spruch jenes unbekannten Meisters, dessen Schrifttafeln er aus Opals
Sammlung mitgenommen hat:
wer die fülle des De bewahrt /
gleicht dem kinde… / nichts weiß es von der geschlechter paarung / doch steift
sich sein glied / ungeschwächt ist in ihm die samenkraft des lebens…
Zwar ahnt er dumpf, daß der alte
Meister viel größeres meinte als den allmächtigen Geschlechtstrieb, aber auf
geheimnisvolle Weise drücken diese Worte aus, was er bei der Erinnerung an jene
Nacht empfindet. Eigentlich war es damals am schönsten. Und lange Zeit hat er
Sirrah geglaubt, die sich brüsk – wie er nun weiß, voller Entsetzen ob ihrer
gefährlichen Willensschwäche – von ihm abwandte, als der Strudel des Unfaßbaren
versiegt war und ihm zitternd sagte, das sei nun alles, was zwischen ihnen
möglich wäre, und er solle das Geheimnis wahren, dies sei der einzig glaubhafte
Beweis seiner Liebe. Dieses Geheimnis machte ihn stark. Bald wurde es sogar
stärker als seine Liebe, und Sirrah mußte es wohl gleich gespürt haben, denn
obwohl sie nichts tat, um die zwischen ihnen wachsende Entfernung zu
überbrücken, blickte sie ihn manchmal seltsam traurig an.
Oft beginnt die Liebe für einen
Jungen in der Begegnung mit einer Frau. Hyazinth weiß längst, daß auch andere
Jungen seines Alters ihre ersten tiefen Gefühlserlebnisse Frauen verdanken,
obgleich genug Mädchen bereit gewesen wären, an deren Stelle zu treten. Aber er
weiß immer noch nicht, ob es gut oder schlecht ist, das Leben des Mannes im
Bett einer Frau zu beginnen, oder ob es vielleicht nicht doch natürlicher wäre,
der Liebe in der Unschuld eines Kindes zu begegnen, solange man selber noch
Kind ist.
Wie Korund Stein von dieser Nacht
erfuhr, weiß er bis heute nicht. Lange Zeit blieb ihm verborgen, daß Sirrah nur
knapp einer strengen Bestrafung entgangen war. Einzig eine winzige Andeutung
des Ersten Exarchen ließ ihn ahnen, wie böse alles hätte enden
können: Er war wieder mal krank, nichts besonderes, nur eine der gewohnten
Streßpsychosen. Und Korund Stein sagte damals, diesmal müsse er sein Leiden
aber im eigenen Bett auskurieren…
Er spürt Sirrahs schmale Hand
unter seinem Kopf.
“Steh auf, Zintchen, der Tag
beginnt!” so hatte sie ihn immer geweckt, wenn er, in der Erwartung, die Träume
seiner Geschwister anhören zu dürfen, doch wieder eingeschlafen war.
Hyazinth richtet sich mühsam auf,
dann sieht er Sirrah Stern das erste Mal seit acht Jahren.
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