Corbins 03 - Wer dem Zauber der Liebe verfaellt...
an,
Derora das Bild aus der Hand zu reißen. »Er ist fort«, antwortete sie mit
erzwungener Ruhe.
Derora wurde blaß unter ihrer
Schminke. »Fort?« wiederholte sie tonlos. »Wohin?«
»Zurück in sein Lager. Er sagte, es
wäre besser, wenn er ginge ...«
Derora wirkte merkwürdig
erleichtert, aber gerade deshalb war ihre nächste Frage ein noch größerer
Schock für Tess. »Hast du etwas mit ihm gehabt?«
»Ge-gehabt?«
»Stell dich nicht so dumm an, Kind.
Du weißt genau, was ich meine. Hast du diesem Mann erlaubt, sich Freiheiten
bei dir herauszunehmen?«
Aus Deroras Mund klang eine solche
Frage geradezu lächerlich, aber Tess hätte nie gewagt zu lachen. Dazu war sie
ohnehin viel zu verletzt. »Ganz sicher nicht«, entgegnete sie empört.
Derora hielt noch weitere
Überraschungen für ihre Nichte bereit. »Ich dachte, du hättest den Vortrag über
freie Liebe vielleicht ernstgenommen«, bemerkte sie mit einem schrillen Lachen.
»Ich weiß, daß du dabei warst, Tess, ich habe dich bei diesem Hamiltonmädchen
sitzen sehen. Und es ist ziemlich offensichtlich, daß Mister Shiloh dich
beeindruckt hat, denn sonst hättest du ihn ja wohl kaum fotografiert, oder?«
Tess streckte zaghaft die Hand nach
dem Bild aus, aber Derora zog es rasch zurück.
»0 nein. Das gehört mir. Ist dir
bewußt, welchen Skandal das ausgelöst haben könnte? Stell dir vor, Mister
Hamilton hätte mich nicht gewarnt ...«
»Eine einfache Fotografie?« fiel
Tess ihr ärgerlich ins Wort. »Wie sollte daraus ein Skandal entstehen?«
»Weil es auf unangebrachte
Vertrautheit schließen läßt, Tess!« entgegnete Derora scharf.
»Du bist mir die richtige, um über unangebrachte
Vertrautheit zu sprechen!« versetzte Tess empört, was augenblicklich mit
einer Ohrfeige geahndet wurde.
»Derartige Unverschämtheiten lasse
ich mir nicht von dir gefallen, Tess! Wenn ich und Mister Beauchamp nicht
dagewesen wären — möge er in der Hölle schmoren! —, stündest du jetzt ganz
allein auf dieser Welt! Allein, Tess. Darf ich dich daran erinnern, daß wir
dich aufgenommen haben, nachdem deine liebe, dumme Mutter den Verstand
verloren hatte?«
Ihre liebe, dumme Mutter. Wie sehr
Tess sie vermißte, wie sehr sie wünschte, nie mit ihr an diesen Ort gekommen
zu sein, um ein neues Leben zu beginnen! Wenn sie in St. Louis geblieben wären ...
Aber das waren sie nicht. Mister Asa
Thatcher Esquire, der Liebhaber ihrer Mutter, war seiner Geliebten müde
geworden und hatte sie aus ihrem goldenen Käfig entlassen, zusammen mit Tess,
seinem illegitimen Kind. Natürlich war alles von Anwälten geregelt worden,
Angestellten seiner Kanzlei. Olivia Bishop hatte keine andere Wahl gehabt, als
ihren letzten Schmuck zu versetzen und Zugfahrkarten für sich und ihre Tochter
zu kaufen.
Olivia mußte Asa Thatcher, diesen
mürrischen kleinen Griesgram, sehr geliebt haben, denn nicht einmal im Westen,
wo Männer begierig waren, eine so schöne Frau wie Olivia zu umwerben, hatte
ihre Mutter sich einem anderen zugewandt. Nein, statt dessen hatte sie Asa lange
Briefe geschrieben und geseufzt und geweint, wenn keine Antwort kam, bis sie
schließlich in jenem Schweigen erstarrte, mit dem sie den Rest der Welt
ausschloß.
Tess schüttelte die Erinnerungen an
ihre Mutter ab und schluckte gequält. Als Ersatzmutter war Derora kalt und
desinteressiert gewesen, aber sie hatte wenigstens dafür gesorgt, daß das Kind
der Liebe ihrer Schwester ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hatte. Sie
war so vernünftig gewesen, auf einem Schulabschluß für ihre Nichte zu
bestehen, und danach hatte sie Tess bei sich arbeiten lassen, anstatt sie zu
verheiraten oder einfach vor die Tür zu setzen und ihrem Schicksal zu
überlassen. Und Olivia hatte sie in einem guten Sanatorium in Portland
untergebracht.
»Ich wollte nicht undankbar erscheinen,
Tante Derora«, sagte Tess leise. »Es tut mir leid.«
»Das sollte es auch«, erwiderte
Derora schroff, bevor sie sich abwandte und mit raschelnden Röcken und Joel
Shilohs Foto den Korridor hinuntereilte.
Tess hatte kein Verlangen mehr, sich
ein Kabarett anzusehen, nicht einmal auf einem Vergnügungsdampfer. Sie wollte
zu Joel laufen, wie ein leichtes Mädchen, und ihn bitten, sie mit auf seine
Reise zu nehmen. Aber da sie Emma ihr Wort gegeben hatte, sie zu begleiten,
mußte sie ihr Versprechen halten.
Roderick haßte es, sein Quartier auf der Columbia
Queen mit jemandem wie Johnny Baker, einem gewöhnlichen
Gelegenheitsarbeiter,
Weitere Kostenlose Bücher