Corbins 03 - Wer dem Zauber der Liebe verfaellt...
herumtanzte.
Darauf folgte ein französischer
Cancan, und schließlich erschien ein dünner kleiner Mann auf der Bühne, der
recht derbe Witze erzählte, bei denen die Männer schallend lachten und die
Frauen verschämt kicherten.
Danach trat eine Frau in
schimmernder Samtrobe und weißen Perlen im Haar auf. Sie stellte Anne Boleyn
dar, eingeschlossen im Tower von London, wo sie ihrer Hinrichtung mit einem
Mut und einer Gelassenheit entgegensah, die Emma und Tess zu Tränen rührte.
Die entthronte Königin wurde dreimal
vor den Vorhang gerufen und mit stürmischem Applaus und einigen
unmißverständlichen Aufforderungen bedacht. Das Publikum schien sich nicht von
ihr trennen zu können, und als Roderick erneut erschien, diesmal ohne schwarze
Schminke und weiße Augenbrauen, wirkten die Zuschauer fast verärgert.
Roderick sang eine herzzerreißende
irische Ballade, und Tess dachte nach einem verstohlenen Blick auf ihre
Freundin Emma, daß es besser sei, wenn der Vergnügungsdampfer so schnell wie
möglich seine Fahrt fortsetzte. Denn sonst konnte es ernsthaften Ärger geben.
Als das Licht anging und die Show zu
Ende war, erklang begeisterter Applaus, doch Tess klatschte nur halbherzig mit,
denn sie hatte beschlossen, ihre Freundin nun über Roderick Waltam aufzuklären.
Aber während sie noch nach den richtigen Worten suchte, legte sich eine
schwarze Hand auf ihre Schulter.
Tess drehte sich verwundert um. Es
war Mister Wilcox, der Sägewerksarbeiter, der in Deroras Pension lebte.
»Miss Bishop«, begann er und zog
schnell seine Hand zurück, als er sich bewußt wurde, daß er sich eine Freiheit
herausgenommen hatte, die ihm nicht zustand. »Ich bringe Ihnen eine Nachricht
von Juniper. Sie sagte, Sie sollten sofort nach Hause kommen, weil Missis Beauchamp
sich verletzt hat und nach Ihnen fragt.«
Tess sprang erschrocken auf. »Ist es
schlimm, Mister Wilcox? Was ist passiert?«
Mister Wilcox maß sie mit einem
mitleidigen Blick. »Nein, sehr schlimm ist es nicht, Miss Bishop — obwohl
ziemliche Aufregung im Haus herrscht. Soviel ich weiß, ist Missis Beauchamp die
Treppe hinuntergestürzt und hat sich einen Knöchel verstaucht.«
Trotz ihrer geheimen Abneigung ihrer
Tante gegenüber wurde Tess von Angst und Sorge erfaßt. »Komm«, sagte sie
ungeduldig zu Emma. »Wir müssen gehen.«
Doch ausgerechnet in diesem
kritischen Moment stellte Emma sich stur. »Ich nicht. Ich bleibe.«
»Emma, ich habe keine Zeit, mit dir
zu streiten! Entweder kommst du mit, oder ich lasse deinen Vater benachrichtigen,
daß du hier bist!«
Emma verschränkte stur die Arme.
»Mach, was du willst, Tess Bishop. Ich bin siebzehn Jahre alt und durchaus in
der Lage, selber auf mich aufzupassen. Wenn du meinem Vater etwas erzählst,
kannst du vergessen, daß ich je deine Freundin war.«
Tess hatte weder die Zeit noch die
nötige Geduld, herumzustehen und sich mit Emma zu streiten, und verlieren
wollte sie die einzige wirkliche Freundin, die sie besaß, schon gar nicht.
»Versprich mir, dich von diesem Schauspieler fernzuhalten!« bat sie deshalb
nur, bevor sie Mister Wilcox eilig folgte. Emmas Antwort konnte sie nicht mehr
hören und hoffte nur, daß die himmlischen Geschicke über ihre Freundin wachten.
Derora wirkte blaß und leidend, als
Tess das Wohnzimmer betrat. Ihr geschwollener Knöchel ruhte auf einem Stapel
Kissen.
»Wie geht es dir?« fragte Tess und
blieb neben dem Bett stehen, wo ihre Tante wie eine leidende Königin ruhte.
»Was ist geschehen?«
»Ich bin auf der Treppe gestolpert
und gefallen«, antwortete Derora. »Und zu einem schlechteren Zeitpunkt hätte
es nicht passieren können, meine Liebe!«
Tess konnte sich nicht vorstellen,
daß es einen guten Zeitpunkt für derartige Unfälle gab, aber am
Verhalten ihrer Tante merkte sie, wie unklug sie gewesen wäre, eine solche
Ansicht — oder irgendeine andere — zu äußern. »Wie kann ich dir helfen?«
erkundigte sie sich fürsorglich.
Derora lächelte, griff nach Tess'
Hand und drückte sie leicht. »Liebes Kind. Manchmal bin ich zu streng mit dir.
Aber das ist keine Absicht, glaub mir bitte.«
Tess wartete ab und versuchte nicht,
Derora ihre Hand zu entziehen. Hatte sie einen Brief vom Sanatorium in Portland
erhalten? Bereitete ihre Tante sie auf schlechte Nachrichten von ihrer Mutter
vor?
Derora ließ ihre Hand los und nahm
eine zusammengefaltete Zeitung vom Nachttisch. »Mir bleibt nichts anderes
übrig, als dich um Hilfe zu bitten, Tess. Es stehen
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