Corellia 02 - Angriff auf Selonia
»Er gehört zu meinen engsten Familienange hörigen und ist ein Vetter ersten Grades. Das heißt, Thrac kan ist der Sohn der Schwester meines Vaters.«
»Ah«, machte Dracmus, Han noch immer anstarrend. »Ich machen Geständnis, daß ich menschliche Familienbeziehun gen nicht verstehen ganz«, radebrechte sie.
»Ja«, sagte Han nach kurzem Zögern. »Das kann ich mir vorstellen.« Er hatte nicht gewußt, wie Dracmus reagieren würde, und befürchtete, daß sie wegen des Kampfes vielleicht wütend auf ihn war, aber sie schien ihn nicht einmal erwähnen zu wollen. Nun, wenn sie es nicht tat, er würde es bestimmt tun. Dennoch, er hatte nicht erwartet, daß sie ihn über seinen Vetter ausfragen würde. Warum interessierte sie sich so für die menschlichen Verwandtschaftsverhältnisse? Han wußte zwar nicht viel über das selonianische Familienleben, aber einige Informationen hatte er doch.
Selonianer lebten, ähnlich bestimmten staatenbildenden Insekten, in Gemeinschaften, die Stock genannt wurden. Normalerweise lebten alle Stockbewohner zusammen, aber es kam vor, daß einige weit reisen mußten oder aus sonsti gen Gründen von der Gemeinschaft getrennt wurden. Aber sie waren trotzdem weiter ein Teil des Stocks, da nur die Blutsverwandtschaft zählte, nicht die körperliche Nähe.
Zu jedem Stock gehörten normalerweise ein paar frucht bare Männchen und genau ein aktives fruchtbares Weib chen, die Königin. Von dieser einen Königin, diesem einzigen fortpflanzungsfähigen Weibchen, stammten alle Nachkommen des Stocks ab. Jedes Jahr gebar sie vier oder fünfmal Fünflinge, und dieses Tempo hielt sie dreißig oder vierzig Standardjahre durch. Nur einer von hundert Nachkommen war ein Männchen, aber alle Männchen waren fruchtbar. Doch die überwältigende Mehrheit eines jeden Stocks bestand aus sterilen Weibchen. Noch seltsamer war, daß die fruchtbaren Weibchen und Männchen, die für die Arterhaltung sorgten, eine unterdrückte, wenn auch gehät schelte Minderheit darstellten. Die Sterilen behandelten die Fruchtbaren als reine Brutmaschinen. Die Macht lag nicht in den Händen der fruchtbaren Königin, sondern in den Händen einer ihrer sterilen Töchter oder Tanten oder Schwe stern, deren Eigentum sie praktisch war.
Eine sehr fremdartige Gesellschaftsform, aber Han war klar, daß die menschlichen Verwandtschaftsverhältnisse auf Dracmus ebenso fremdartig wirken mußten. »Ihr Selonianer handhabt die Dinge etwas anders«, bemerkte er.
»Ja, ja«, nickte Dracmus geistesabwesend. »Sehr anders.« Sie rollte ihren Schwanz auf ihrem Schoß zusammen. »Aber dieser dein Vetter. Er nicht sein wie du.«
Han fühlte sich ein wenig benommen. Der Tag war ohne hin schon hart genug gewesen, auch ohne eine Selonianerin, die Anthropologin spielte. Aber da war etwas in ihrem Ton fall, das ihm verriet, daß sie zu der hartnäckigen Sorte ge hörte. Sie würde nicht eher Ruhe geben, bis er ihre Neugier de gestillt hatte. »Er ist wie ich und doch nicht wie ich«, erklärte er. »Wir sehen uns ähnlich und unsere Stimmen klingen ähnlich. Aber im Denken unterscheiden wir uns. Was der Grund dafür ist, daß er mit seinen Saufkumpanen die Freiheit genießt, während ich in einer Zelle sitze.«
»Sein das die Regel bei menschlichen Vettern? Ähnlich aussehen, anders denken?«
»Es gibt keine Regeln«, erwiderte Han. »Es ist unter schiedlich. Sehr unterschiedlich. Thrackan und ich sehen uns viel ähnlicher als die meisten anderen Vettern. Aber es ist normal, wenn sich Vettern unterschiedlich verhalten.«
»Sehr von Interesse sein«, sagte Dracmus. »Sehr. Und er dein Feind sein? Wahrhaft und unversöhnlich? Ihr von glei chem Blut sein, ihr enge Blutsverwandte sein, und doch ihr kämpfen miteinander?«
»Oh, ja«, bestätigte Han. »Und ob.«
Dracmus wackelte nachdenklich mit ihrer Schwanzspitze. »Erstaunen. Wir Selonianer, wir wissen, andere Spezies so sein, aber wissen sein nicht verstehen. Blut kämpfen gegen Blut.«
»Ja, so ist es«, bestätigte Han. Er war erschöpft und nicht sicher, wie lange er die Unterhaltung noch fortsetzen konnte, bevor er zusammenklappte. Aber er wollte Dracmus auf kei nen Fall beleidigen. Schon aus Respekt vor ihren spitzen Zähnen. Er zögerte einen Moment und entschloß sich dann, das Risiko einzugehen. »Sieh mal, ich will dich nicht beleidi gen, und ich bin wirklich froh, daß du mir offenbar nicht sämtliche Glieder ausreißen willst; aber ich bin im Moment in keiner besonders guten
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