Cosm
Studenten machten, ohne je respektlos zu werden, eher mit einer gewissen Selbstironie, ihre Späße. Wenn ein Wissenschaftler einen Vorgesetzten hatte, für den die Arbeit der Mittelpunkt des Lebens war, lernte er, sein Bestes zu geben. Die Studenten versetzten sich so lange in die Rolle ihres wissenschaftlichen Mentors, bis sie endlich die gewünschte Persönlichkeit entwickelten, eine Synthese aus dem Wesen ihres Vorbilds und dem eigenen Ich.
Zwischen größeren Forschungsprojekten fand ein regelrechter Tauschhandel mit Studenten und besonders mit Postdocs, ähnlich wie bei primitiven Stämmen, die ihre heiratsfähigen Frauen austauschten, um ein dichtes Netz von Verwandtschaftsbeziehungen zu knüpfen. Nur wurde hier nicht immer auf gleicher Basis getauscht. Die Devise lautete: Wissen sickert nach unten; Studenten schwimmen nach oben. Die besten Köpfe bekamen die besten Plätze, niedriger Rang war also gleichbedeutendmit minderwertiger Leistung. Dieser Glaube war nicht zu erschüttern. Der Cosm war dem Ansehen der UCI förderlich; schon jetzt bewarben sich immer wieder Postdocs um eine Stelle an Alicias Projekt, und viele Besucher kamen nur, weil sie glaubten, daß sich hier eine neue Spezialdisziplin entwickelte.
»Haben Sie eigentlich den Artikel über Brookhaven in der New York Times gelesen?« Zaks Frage riß Alicia aus ihren Gedanken.
Ihr wurde ganz flau. »Äh … nein.«
»Es ging um den Rekombinationsblitz. Er hat etwa zehn Minuten gedauert, einige Brände ausgelöst und ein paar Bäume zerstört.«
»Und die haben uns nichts davon gesagt?«
»Es kam heute morgen im Fernsehen in den Nachrichten. Ich dachte, Sie hätten es gesehen.«
Sie unterdrückte ihren Ärger und machte nur: »Hmmm.«
»Brookhaven spricht jetzt auch von einem ›Mikrouniversum‹ und behauptet, bei ihnen würde es erstmals ›systematisch‹ untersucht.«
»Ach nein? Und wir spielen hier wohl rum damit?«
Sie lächelten sich resigniert an. »Die wollen um jeden Preis als erste in die Medien.«
Seine Mitbewerber auszumanövrieren, war ein altes Spiel in der Elementarteilchenphysik, wo es mehr Konkurrenzdenken gab und Schnelligkeit eine größere Rolle spielte als irgendwo sonst. Irgendwann um 1970 herum hatte eine von Sam Ting geleitete Forschungsgruppe in Brookhaven ihr neuentdecktes Elementarteilchen J getauft. Eine Konkurrenzgruppe in Stanford hatte das gleiche Teilchen entdeckt und es nach dem griechischen Buchstaben psi benannt, weil ihre Computergraphik ein Muster erzeugte, das Ähnlichkeit mit diesem Buchstaben hatte. Wenn man nun in einem späteren Aufsatz das eine oder andere Symbol verwendete, tat man damit auch kund, welcher Gruppe man die Entdeckung zuschrieb. Wer zu diplomatisch war, um zwischen einem Muster und einem Menschen zu wählen, behalf sich einfach mit J -psi und war aus dem Schneider. Die Stanford-Gruppe hatte nämlich hämisch darauf hingewiesen, daß J an den chinesischen Buchstaben ting erinnere. Ting hatte also das Teilchen klammheimlich nach sich selbst benannt.
»Unser Cosm ist dem ihren in seiner Entwicklung weit voraus«, sagte sie. »Sie können unmöglich … Moment mal!«
Sie begann zu rechnen, und nach ein paar Minuten stand fest, daß die Rekombinationsphase in Brookhaven eine Woche früher eingetreten war als bei ihrem Cosm. »Brookhaven hat eine andere Zeitrelation«, erklärte Alicia.
»Sie sind schneller. Sie werden uns einholen.«
»Falls unser Cosm dann überhaupt noch da ist. Er verliert ständig weiter an Masse.«
Zak runzelte die Stirn. »Ob das wohl damit zusammenhängt, daß wir mehr Licht bekommen?«
»Wahrscheinlich.«
Zak entschuldigte sich, er wollte noch ein paar Kontrollen an den Diagnostiken durchführen. Alicia war der Tag zwischen den Fingern zerronnen, nun mußte sie zu Hause die ganze Nacht über den Ergebnissen sitzen, und das war kein Vergnügen. Genauso hatte sie sich damals gefühlt, als sie an ihrer Promotion arbeitete, fiel ihr plötzlich ein, völlig erschöpft, aber dabei so aufgedreht, daß sie keine Ruhe fand. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb sie ihre Doktorarbeit schneller abgeschlossen hatte als ihre Kommilitonen. Die männlichen Doktoranden in ihrem Bekanntenkreis hatten fast alle geheiratet und sich eine bürgerliche Existenz aufgebaut. Wenn sie bis spät in die Nacht hinein und das ganze Wochenende hindurch schufteten, wurden sie von ihren liebenden Ehefrauen unterstützt, von denen sie sich, so war es Tradition in diesem Fach, ganz
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