Cosmopolis
nicht ausgepackten Kisten, im Wohlgeruch verblasster Dekaden, und suchte mit dem Blick alles ab. Sie war nicht unter den Kunden oder dem Personal. Er merkte, dass seine Beschützerin ihn anlächelte, eine schwarze Frau mit einem auffälligen Gesicht, die einen neckischen Blick zu der Tür rechts schickte. Er ging hin und öffnete die Tür zu einem Flur mit Bücherstapeln auf der einen Seite und Fotos von soziopathischen Dichtern auf der anderen. Eine Treppe führte zu der Galerie oberhalb vom Hauptgeschoss, und eine Frau saß auf den Stufen, eindeutig diejenige welche. Sie war von erkennbarer Gelassenheit, einer Leichtigkeit der Haltung, und dann sah er, wer sie war. Es war Elise Shifrin, seine Frau, die in einem Gedichtband las.
Er sagte: »Rezitiere für mich.«
Sie sah hoch und lächelte. Er kniete auf der Stufe unter ihr und legte die Hände um ihre Fesseln, bewunderte ihre milchigen Augen über dem Kaptalband des Buches. »Wo ist dein Schlips?«, sagte sie.
»Hab mich durchchecken lassen. Und mein Herz auf einem Monitor gesehen.«
Er fuhr mit den Händen an ihren Waden hoch bis zu den Kuhlen hinter den Knien. »Ich sag’s ja nicht gerne.«
»Aber.«
»Du riechst nach Sex.«
»Das ist mein Arzttermin, was du riechst.«
»Ich rieche Sex an dir von oben bis unten.«
»Das ist was. Das ist Hunger, den du riechst«, sagte er. »Ich will Mittag essen. Du willst Mittag essen. Wir sind Menschen auf der Welt. Wir müssen essen und sprechen.«
Er hielt ihre Hand, und sie gingen hintereinander durch matten Verkehr zu der Lunchbar gegenüber. Ein Mann verkaufte Armbanduhren auf einem Badetuch, das er auf dem Pflaster ausgebreitet hatte. Der lange Raum war vollgestopft mit Körpern und Lärm, und er schob sich an der Menge, die »zum Mitnehmen« wollte, vorbei und fand Plätze am Tresen.
»Ich bin mir nicht sicher, wie hungrig ich bin.«
»Iss. Dann merkst du’s«, sagte er. »Apropos Sex.«
»Wir sind erst seit ein paar Wochen verheiratet. Gerade mal.«
»Alles ist gerade mal ein paar Wochen. Alles ist Tage. Uns bleiben ein paar Minuten zum Leben.«
»Wir wollen doch nicht anfangen, die Male zu zählen, oder? Oder feierliche Debatten über das Thema führen.«
»Nein. Wir wollen es tun.«
»Und das werden wir. Bestimmt.«
»Wir wollen es tun«, sagte er.
»Sex.«
»Ja. Weil die Zeit nicht reicht, es nicht zu tun. Zeit wird jeden Tag knapper. Was. Das weißt du nicht?«
Sie betrachtete die Speisekarte, die sich über den oberen Teil der Wand erstreckte, und schien von ihrer Größe und Tendenz entmutigt zu sein. Er las ihr laut einige Gerichte vor, von denen er meinte, die äße sie vielleicht gern. Nicht dass er gewusst hätte, was sie aß.
Es herrschte ein Kreuz-und-quak von Akzenten und Sprachen, und ein Tresenmann rief Bestellungen über Lautsprecher auf. Hupen ertönten auf der Straße.
»Ich mag diesen Buchladen. Weißt du warum?«, sagte sie.
»Weil er halb unter der Erde ist.«
»Du fühlst dich versteckt. Du versteckst dich gern. Wovor?«
Männer redeten geschäftlich in Stakkato-Raps, in metrischen Gesängen, die von Besteckklirren begleitet wurden.
»Manchmal nur vorm Lärm«, sagte sie, die Worte fröhlich flüsternd, und beugte sich zu ihm herüber.
»Du warst eins von diesen schweigsamen, ernsthaften Kindern. Wie festgeleimt im Schatten.«
»Und du?«
»Ich weiß es nicht. Ich denke nicht darüber nach.«
»Denk an ein Detail und sag mir, was es war.«
»Gut. Ein Detail. Als ich vier war«, sagte er, »hab ich ermittelt, wieviel ich auf jedem Planeten im Sonnensystem wiegen würde.«
»Das ist nett. Oh, das gefällt mir«, sagte sie und küsste ihn seitlich auf den Kopf, etwas mütterlich. »Diese Wissenschaft und das Ego kombiniert.« Jetzt lachte sie, nachhallend, während er bei dem Mann am Tresen ihre Bestellung aufgab.
Eine Lautsprecherstimme sickerte aus einem Touristenbus, der im Verkehr festsaß. »Wann fahren wir an den See?«
»Scheiß auf den See.«
»Ich dachte, da gefällt es uns. Nach den ganzen Plänen und Bauarbeiten. Um wegzukommen, allein miteinander zu sein. Am See ist es ruhig.«
»In der Stadt ist es ruhig.«
»Wo wir wohnen, nehm ich schon an. Hoch genug, weit genug. Was ist mit deinem Wagen? Doch sicher nicht so ruhig. Du verbringst viel Zeit da drin.«
»Ich hab den Wagen proustifizieren lassen.«
»Aha?«
»Also, eine Stretchlimo wird folgendermaßen gebaut. Man nimmt das Grundmodell von einer Limousine und schneidet sie mit einer riesigen,
Weitere Kostenlose Bücher