Cotton Reloaded - Folge 2: Countdown
Während die Fernsehnachrichten liefen, zog er sich an.
Bei den Fernsehsendern war das gestrige Beinahedrama von New York immer noch Thema Nummer eins, wobei besonders Woodbridge ein von den Journalisten gesuchter Interviewpartner war. Er genoss es sichtlich, kleine Reden zu halten. Über Themen wie innere Sicherheit und die Effizienz seines Antiterrorteams. Oder über seine Zukunftsvisionen, wie er die Unverwundbarkeit der USA gewährleisten wolle. Einem Sender gestattete er Einblicke in die Funktionsweise seines Stabes und seine Pläne über neue Strukturen, die er in die amerikanische Sicherheitspolitik einzuführen gedachte. Früher sei ihm dies unmöglich gewesen, da mehrere dezentralisierte Organisationen für die Sicherheit zuständig gewesen seien. Nun, da alle Fäden in seiner Abteilung zusammenliefen, gäbe es kein Kompetenzgerangel mehr unter den Geheimdiensten. Terrorakte wie der gestrige seien auf amerikanischem Boden von nun an undenkbar.
Cotton schaltet den Fernseher ab und widmete sich wieder seinem neuen Leben. Er musste sich mit der Tatsache anfreunden, dass die Welt da draußen auch ohne ihn ganz gut zurechtkam. Die Erde drehte sich weiter, auch wenn er sich jetzt nicht mehr um ihre Sicherheit kümmerte.
Kurz nach neun Uhr verließ er sein Apartment, um einkaufen zu gehen. Hinter der Wohnungstür führte ein Flur zu anderen Apartments und einer Treppe, über die man zum Ausgang gelangte. In Gedanken versunken steuerte Cotton auf diese Treppe zu, als er von dort er ein leises Niesen hörte.
Auf den Stufen hockte ein Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren, mit Jeans, einem hellgrauen Sweater und abgetretenen Sneakers bekleidet. Die langen dunklen Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden. Die Kleine war hübsch und schlank, mit fein geschnittenem Gesicht. Ihre Augen waren groß und braun, wirkten jedoch verquollen, als hätte sie geweint. Ein Mundwinkel war von einer Prellung geschwollen. Die Haltung des Mädchens wirkte abweisend, mit vor der Brust verschränkten Armen.
»Gesundheit«, sagte Cotton im Vorbeigehen.
Die Angesprochene drehte ihm den Kopf zu. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Das Mädchen schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln. Beiläufig strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Ihre Hand wirkte zittrig.
Cotton hätte beinahe gefragt, ob er helfen könne, aber die Kleine hatte vermutlich nur Streit mit einer Freundin oder ihren ersten Liebeskummer.
Er verließ das Gebäude und schlenderte die Straße hinunter. Vorbei an kleinen Clubs, in denen abends Musiker live auftraten. Inzwischen hatte das Viertel dem East Village fast den Rang als alternativer Künstlertreff abgelaufen. Tagsüber ging es hier umso geruhsamer zu.
Cotton betrat einen kleinen Supermarkt an der Ecke, in dem er öfters einkaufte. Hinter der Theke stand ein schmächtiger Koreaner mit weißen Haaren und blutunterlaufenen Augen, die hinter seiner Brille mit flaschenbodendicken Gläsern riesig wirkten. Er sah kurz auf, als Cotton eintrat, und nickte ihm freundlich zu. Cotton grüßte zurück, nahm einen der Warenkörbe und widmete sich seiner Einkaufsliste.
Bei seiner Rückkehr ins Apartmenthaus saß das Mädchen immer noch auf der Treppe. Frische Tränen glänzten auf ihren Wangen. Als sie Cotton bemerkte, wischte sie sich rasch mit dem Handballen durchs Gesicht.
Cotton stieg langsam die Stufen hinauf. Das Mädchen hielt den Blick gesenkt, um dann plötzlich zu ihm aufzusehen.
»Ich wohne hier«, sagte Cotton.
»Ich weiß«, entgegnete das Mädchen leise und deutete mit dem Kinn in Richtung seiner Wohnung. »Ihr Apartment ist da drüben.«
»Woher weißt du das?«
»Vorgestern hab ich eine Treppe höher gesessen«, erwiderte die Kleine mit einem angedeuteten Lächeln. »Da hab ich Sie abends beobachtet, als Sie von der Arbeit kamen.«
»Wohnst du auch hier?«
»Ja. Da drüben, am anderen Ende vom Flur. Zusammen mit meiner Mom.«
»Was ist mit deiner Lippe?« Cotton deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle am Mundwinkel des Mädchens, wo die Prellung zu sehen war. »Ist das ein Andenken an eine Meinungsverschiedenheit?«
»Bin hingefallen. War meine eigene Schuld.«
Cotton sah, dass die Kleine log. Doch er ließ es dabei bewenden.
»Übrigens, ich heiße Jeremiah Cotton.«
»Ich bin Zoe.«
»Wo ist deine Mutter, Zoe?«
»Bei einer Bekannten. Bis vor einer Woche hat sie tagsüber als Kellnerin gearbeitet, jetzt nicht mehr.«
»Was ist passiert?«
»Ist eine lange
Weitere Kostenlose Bücher