CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
noch so viele Gespräche mit einem Fremden (für fünfzig Pfund pro Stunde, wie der Vater anmerkte).
Nach vorn schauen. Positiv denken. Weitermachen. Sie wollten unter das, was geschehen war, einen Schlussstrich ziehen, sagte die Mutter, und sich auf die Herausforderungen konzentrieren, die vor ihnen lagen.
Der neue Philip. Die neue Familie Garamond.
Die Mutter umarmte und küsste ihn, sagte ihm, wie lieb sie ihn hätte. Der Vater klatschte in die Hände und meinte, sie sollten unbedingt öfter gemeinsam etwas unternehmen, »als Familie«. Picknicks. Theaterbesuche, Ausstellungen. Ausflüge.
»An diesem Punkt«, verkündete Teri mit ihrer Reporterstimme, »übergoss sich Mr und Mrs Garamonds Tochter mit Benzin und griff zu den Streichhölzern.«
Am Nachmittag saß Alex in Flips Zimmer, offiziell, um seine Schularbeiten nachzuholen. In Wirklichkeit tat er endlich das, wovor er sich vorher immer gedrückt hatte: Er googelte nach »Alex Gray«.
Es kamen jede Menge Treffer. Links zu Nachrichtenseiten, Blogs und Diskussionsforen, die sich aufgrund der Geschichte vom »Koma-Jungen« gebildet hatten. Es war heftig und mehr als nur ein bisschen verrückt, über sich selbst zu lesen. Sich selbst zu
sehen.
Das Bild von ihm im Krankenhausbett – eine Totenmaske mit einer Ernährungssonde in der Nase. Seine Eltern hatten der Veröffentlichung zugestimmt, stand in der Bildunterschrift, in der Hoffnung, dass sich jemand melden würde, der Informationen über den Unfall hatte. Das war im Januar gewesen. Im neuesten Artikel, der sich darauf bezog, dass der Unfall inzwischen ein halbes Jahr zurücklag, stand zu lesen, dass der Fahrer immer noch nicht gefunden war.
Das war es also gewesen. Ein Autounfall mit Fahrerflucht.
Alex Gray (14 Jahre alt) aus der Monks Road in Crokeham Hill, befand sich am 21. Dezember gegen 22 Uhr nach dem Besuch bei einem Freund auf dem Heimweg, als er von hinten von einem großen weißen Auto (oder gelben oder silbernen, oder vielleicht war es auch ein Lieferwagen oder Kleinbus) erfasst und verletzt am Straßenrand liegen gelassen wurde. Der Unfall ereignete sich weniger als zweihundert Meter von seinem Elternhaus entfernt. Ein Zeuge sagte aus, der Junge seigerannt und, ohne zu schauen, einfach quer über die Straße gelaufen.
Dann gab es einen Videoclip von Mum und Dad, wie sie auf einer Pressekonferenz schluchzend den verzweifelten Überlebenskampf ihres Sohnes schilderten. Das ging Alex am allermeisten an die Nieren. Nach dem Unfall wechselten sich Mr und Mrs Gray rund um die Uhr am Bett ihres Sohnes ab. Aber nachdem über Wochen keine Veränderung (weder zum Guten noch zum Schlechten) erkennbar war, schienen sie ihre Krankenwachen inzwischen auf die regulären Besuchszeiten zu beschränken. Alex nahm es ihnen nicht übel. Man konnte nicht ein halbes Jahr lang rund um die Uhr bei jemandem wachen, der einfach nur dalag; jedenfalls nicht, wenn man berufstätig war, noch einen anderen Sohn hatte, um den man sich kümmern musste, und außerdem noch ein eigenes Leben führen wollte.
Trotzdem
… die Vorstellung, jede Nacht endlose Stunden auf der Intensivstation allein gelassen zu sein … er war schließlich
ihr Sohn!
Ihr halb toter, womöglich sterbender Sohn.
Ein kluger, liebenswürdiger Junge mit einer vielversprechenden Zukunft,
hatte Alex’ Schulleiter gegenüber der Presse gesagt.
Unsere Gedanken und Gebete sind in diesen schweren Zeiten bei Alex und seiner Familie.
Alex wischte sich die Tränen ab und klickte den nächsten Link an.
Die Ärzte im St. Dunstan konnten nicht vorhersagen, wann – oder ob überhaupt – er aus seinem Wachkoma wieder aufwachen würde. So hatten sie sich im Dezemberausgedrückt und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Statistisch gesehen hatten Kinder mehr Chancen als Erwachsene, das Bewusstsein wiederzuerlangen. Daran klammerte sich Alex. Was er am liebsten gleich wieder vergessen hätte, war die Tatsache, dass ein Aufwachen umso unwahrscheinlicher wurde, je länger man im Koma lag. Natürlich hing sehr viel vom Schweregrad der Hirnverletzungen ab; in Alex’ Fall hielt man die Verletzungen nicht für allzu gravierend. Genau genommen konnten sich die Ärzte selbst nicht recht erklären, weshalb er noch nicht wieder zu sich gekommen war.
Man spielte ihm immer wieder seine Lieblingsmusik über den iPod vor. Seine Eltern lasen ihm vor: Geschichten, Gedichte, Philip Pullmans gesamte
Kompass - Trilogie
; David Bell, sein bester
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