CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
behalten konnten. Komischerweise ähnelte diese Situation dem Verhalten seiner eigenen Eltern in den ersten Wochen nach dem Unfall, als sie abwechselnd am Bett ihres Sohnes gewacht hatten. Die Kartenspiele, Scrabble und Kniffel, die er mit dem einen oder anderen Familienmitglied in dieser Woche spielte; die kleinen Reparaturarbeiten am Haus, bei denen er dem Vater half; die Gartenarbeiten, zu denen ihn die Mutter heranzog; wenn sie mittags irgendwo essen gingen oder nachmittags ins Kino, oder die Wanderungen durch die Moorlandschaft. Die Unterhaltungen, die sie führten oder auch nicht führten, während er versuchte, sich wie der Philip zu verhalten, den sie gern haben wollten. Der Philip, dem es allmählich besser ging.
Dabei dachte Alex die ganze Zeit an sein anderes Ich, an den Alex, der zweihundert Meilen (und tausend Lichtjahre) entfernt in einem Krankenhausbett lag.
Genau genommen war dieser Junge, der er war und auch wieder nicht,
wach.
Wach, aber ohne nachweisbare kognitive Funktion
.
Einige Webseiten erklärten es besser als andere, aber soweit er es verstanden hatte, schaltete das Gehirn im Wachkoma nicht ganz und gar ab. Der Gehirnstamm – der Teil, der alles kontrollierte, was man ohne Nachdenken tat (Atmung, Herzschlag, Wach-Schlaf-Rhythmus, Verdauung) – lief weiter. Was sich ausschaltete, war das Großhirn, der Teil, mit dem man dachte, der das Sprechen und die Bewegungen steuerte, der sich seiner Umwelt bewusst war, darauf reagierte und damit interagierte. Der Teil, der einen zu einem
bewussten
Lebewesen machte. Im Wachkoma verlor man im wahrsten Sinne des Wortes das Bewusst-Sein.
Jener andere Alex im St. Dunstan öffnete ab und zu die Augen. Er schlief und schlief nicht, schlief und schlief nicht.
Man hatte ihm einen Katheter gelegt, weil er keine Kontrolle über seine Blasen- und Darmfunktion hatte.
Er war nicht in der Lage, feste oder flüssige Nahrung zu sich zu nehmen, deshalb brauchte er eine Ernährungssonde. (Alex hatte sie auf dem Foto gesehen: ein Schlauch, der ihm aus der Nase kam. Aus der Nase des anderen Alex.) Sein Herz und seine Lungen dagegen arbeiteten weiterhin normal, weshalb er – abgesehen vonder Nasensonde – keine weiteren lebenserhaltenden Apparaturen brauchte.
Es war möglich, dass er zwischendurch lächelte, mit den Zähnen knirschte, Tränen vergoss, ächzte, stöhnte, schrie … aber das alles unabsichtlich.
Alex stellte sich vor, wie sein anderes Ich das alles machte.
Er stellte sich Mum und Dad an seinem Bett vor, wie sie hörten, wenn er im Schlaf stöhnte; sahen, wie er weinte; sahen, wie er lächelte; sahen, wie seine geöffneten Augen ins Leere blickten. Wie hielten sie das aus? Wie konnten sie das alles mitansehen, ohne ihn zu schütteln und anzubrüllen:
Wach auf, bitte, bitte, WACH DOCH AUF!
?
Am »ersten Schultag« ging er, in Begleitung der Eltern, schon früher hin, weil sie sich im Büro des Schulleiters zu einem Gespräch bezüglich Philips »Wiedereingliederung« einfinden sollten. Um Mr Madeleys Schreibtisch saßen außerdem Flips Klassenleiterin und die Schulpsychologin. Für den Rest des Halbjahres würden Miss Sprake und Mrs Belfitt Philips
Rettungsanker im stürmischen Meer des schulischen Daseins
sein. Selbstverständlich würde man keine Mühe scheuen, ihn als geschätztes Mitglied der Schülerschaft … und so weiter. Schließlich verabschiedeten sich die Garamonds und Alex wurde in die Flure der Litchbury High entlassen. Er überstand den Tag ohne viel Scherereien. Er musste nur DonnaBillie aus dem Weg gehen, auf ein paar Fragen hinsichtlichseiner Virusinfektion, die ihn angeblich von der Schule ferngehalten hatte, mit ein paar Lügen antworten, und er musste Jacks nervige Geschichte über einen Virus anhören (
in Afrika oder so
), bei dem das Gehirn so stark anschwoll, dass einem die Augen aus den Höhlen gedrückt wurden. Im Unterricht machte Alex nur das Allernötigste, was seiner Rolle als Flip ohnehin entsprach.
Am Ende der letzten Stunde war es so, als wäre er nie weg gewesen.
Trotzdem hatte ihn die Vorstellung, wieder in diese Schule zu müssen, schon den ganzen Tag über und eigentlich schon die ganze Woche lang schwer belastet. Er wollte sich nicht damit abfinden (noch nicht, nicht voll und ganz), dass er dieses Leben führen musste, aber solange er in Flips Welt gefangen war und nicht wusste, wie er ihr entfliehen sollte, kostete es unheimlich viel Kraft, sich für jemanden auszugeben, der er nicht
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