Crescendo
erkennen.
Nightingale hatte ausgerechnet, dass sie bei ihrem Arbeits-tempo mindestens dreißig Tage brauchen würde, um die ganze Umgebung der Farm zu durchforsten. Am neunten Morgen ihrer Suche wachte sie früh auf, aß ein üppiges Frühstück aus Obst, Eiern, Schinken und Toast und trat dann hinaus in den dampfenden Küchengarten. Es war erst sieben, doch die Sonne war schon heiß und die Luftfeuchtigkeit hoch. Nightingale trug Shorts, aber ein Arbeitshemd mit langen Ärmeln, um die Arme vor Dorngestrüpp und Brennnesseln zu schützen, die sich wehrten, wenn sie ihnen zu Leibe rückte.
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Sie beschloss, statt weiter systematisch vorzugehen, sich lieber auf Bereiche zu konzentrieren, die ihr wahrscheinlich erschienen. »Wahrscheinlich« hieß: Stellen, die ihrer Mutter vermutlich gefallen hatten. Sie hatte die Fotos studiert, die ihre Tante gemacht hatte, und sich drei auffällige Bäume und einen Bach mit flachen Felsen am Rand als Orientierungspunkte eingeprägt.
Irgendwann gegen Mittag – sie trug schon längst keine Uhr mehr, aber die Schatten waren kurz – ließ Nightingale sich unter einer alten Eberesche nieder. Wie jeden Morgen hatte sie noch nicht viel geschafft, aber zumindest hatte sie nicht in der prallen Sonne arbeiten müssen. Sie aß ihren Lunch, genoss das salzige Aroma des Käses und die süßen Tomaten. Die Literflasche Wasser war leer, und sie saugte dankbar die Feuchtigkeit aus den roten Früchten, den Rück-en gegen den warmen Baumstamm gelehnt. Anscheinend war sie ein Weilchen eingenickt. Die Schatten waren nämlich länger geworden, als sie die Augen aufschlug, und ihre Schultern waren steif. Mit einem leisen Ächzen stand sie auf und beschloss, als Nächstes das Gestrüpp am Bach zu lichten.
Der Bach kam aus den Bergen hinter der Farm, plätscherte ein paar Meilen vor sich hin und verschwand dann unter der Erde, um nur wenige Meter vor dem Mühlrad mit sehr viel größerer Kraft wieder aufzutauchen. Sobald sie dort war, stieg ihre Hoffnung. Es war so ungeheuer friedlich, als ob die Welt vor dem Ring aus Ebereschen, die die Quelle des Bachs be-wachten, Halt gemacht hätte. Auf einer Seite des Wassers lag eine Steinplatte, uralt und mit Moos bedeckt, die trotz der Neigung der Böschung ganz gerade auf stützenden Felsen ruhte. Nightingale stellte sich vor, wie Druiden hier irgendwelche heiligen Handlungen vollzogen hatten, bevor sie der Flussgöttin Opfergaben darbrachten. Das Wasser war kalt und klar.
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Anstatt die Farne und Gräser wegzuschneiden, bog sie sie beiseite, weil sie das üppige Grün nicht mit hässlichen Nar-ben verunstalten wollte. Sie brauchte nicht lange, um den Grabstein zu finden: schwarzer, glatt polierter Granit, in den ganz zart und fein eine Hirschkuh mit Kitz eingemeißelt war.
Das Kleine stand behütet zwischen den Beinen der Mutter und hatte sich gegen ihre schützende Wärme gelehnt. Es war ein trauriges kleines Geschöpf, oder lag es an den Umständen, dass Nightingale den Eindruck hatte? Große Augen blickten, als würde die Angst vor der Welt das Jungtier für alle Zeit an die Mutter binden. Aber es war vor allem das Gesicht der Mutter, bei dessen Anblick Nightingale einen Kloß im Hals bekam: eher Mensch als Tier, der Mund nach unten gezogen und die Augen dunkel vor Trauer.
Sie säuberte den Stein behutsam von Gras und Unkraut und rupfte das Moos aus den tiefer eingemeißelten Linien. »Meiner geliebten Louise, in ewiger Liebe.« Als sie ihren eigenen Namen las, war sie fast so schockiert wie bei der Entdeckung ihrer wahren Identität. Ihr Hass auf Amelia war abgeebbt, denn schließlich war die Täuschung das Werk von zwei Menschen gewesen. Als sie das Grab vor sich sah, gestand sie sich zum ersten Mal ein, was ihr Vater da Ungeheuerliches getan hatte.
Er hatte einer Frau, die er doch angeblich liebte, das Kind genommen und ihr unsäglichen Schmerz zugefügt, um seinen eigenen Verlust leichter ertragen zu können.
Würde ihre wahre Mutter ihre geliebte Louise überhaupt noch einmal lieben können, oder war es dazu für immer zu spät? Nightingale hätte gerne um ihre tote Schwester geweint und ein Gebet für sie gesprochen, doch weder die Tränen noch die Worte wollten kommen. Es war, als blickte sie auf ihr eigenes Grab hinunter, während in ihrer Haut eine Betrü-
gerin lebte.
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Erst sehr spät kehrte sie zum Haus zurück, wo sie sich zu ihrer Schande den Bauch voll stopfte und dann schnurstracks ins Bett ging. Regen weckte sie, ein
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