Crescendo
kräftiger Schauer, der aber sicher bald wieder aufhören würde. Auf dem Wecker neben ihrem Bett sah sie, dass es halb sechs Uhr morgens war.
Sie würde nicht mehr einschlafen können und beschloss aufzustehen. Wie immer konnte sie zwischen zwei Wegen in die Küche wählen: über den oberen Flur und dann die Haupt-treppe mit den morschen Stufen hinunter oder über die Hintertreppe, die direkt in die Küche führte. Sie entschied sich für die zweite Möglichkeit, wie früher als Kind. Der Gedanke, dass sich gleich hinter einer Tür in der Küche eine Treppe verbarg, hatte sie immer fasziniert.
Sie hatte das Grab ihrer Halbschwester gefunden, und das hatte die Welt für sie verändert. Die Erkenntnis war zwar schmerzlich gewesen und hatte sie sehr durcheinander gebracht, aber zum ersten Mal ergab ihr Leben einen Sinn. Sie wusste nun, wer sie war, und sie kannte die Gründe für ihre frühere Entwurzelung. Jetzt musste sie nur noch entscheiden, was aus ihr werden sollte.
Das hieß also … ja was? Sie trank ihren Tee und zupfte vorsichtig an überkrusteten Erinnerungen. Sie könnte zu-rückkehren, in ihre Wohnung, zur Arbeit und zu ihren Freunden. Falls sie bei der Polizei blieb – und das war der einzige Beruf, zu dem sie sich irgendwie berufen fühlte –, dann an dem Ort ihrer Wahl. Sie würde in Harlden bleiben oder ganz aufhören.
Das würde natürlich die Konfrontation mit Andrew Fenwick bedeuten. Bei dem Gedanken stellte sich das übliche, dumpf traurige Gefühl ein. Beziehungen zwischen Kollegen waren nicht selten, aber sie wusste, dass er nichts davon hielt, denn ihm musste einfach davor grausen, wenn sich die Gren-539
ze zwischen Privatleben und Beruf verwischte. Sie waren nämlich vom selben Schlag, sie und Andrew, verschlossene, zurückhaltende Menschen, die persönlichen Freiraum brauchten, aber auch achteten. Sie trank ihren Tee aus und spülte automatisch die Tasse ab. Es war Zeit, nach Clovelly zu gehen und sich wieder dem schrecklichen Typen im Internetcafé zu stellen. Dann würde sie etwas Weihwasser aus der Kirche mitnehmen, um das Grab ihrer kleinen Schwester zu weihen, bevor sie sich an die mühselige Arbeit begab, das Haus fertig zu machen und zu packen.
Nightingale war sehr früh am Hafen, gerade rechtzeitig, um die heimkehrenden Fischerboote zu sehen, die ihren frischen Fang kurz darauf gegen eine menschliche Fracht austauschen würden, kleine und große Kinder, die schon darauf brannten, mit rotierenden Metallködern Makrelen zu fischen. Es würde wieder ein heißer Tag werden.
Die Sonne erhellte das Meer wie in Zeitlupe, als sie langsam hinter den Bergen aufstieg. Eine magische halbe Stunde lang konnte Nightingale sich das Dorf so vorstellen, wie es bei seiner Entstehung im sechzehnten Jahrhundert gewesen war. Es war ein vollkommen sicherer Hafen an der gefährlichen Küste von Nord-Devon. An diesem frühen Morgen war es so friedlich, die Stille nur vom Kreischen der hungrigen Möwen und den gelegentlichen Rufen der Fischer durchbro-chen, zeitlose Laute, die die Ruhe der Szenerie nur noch stärker spüren ließen.
Der Zeitungsladen machte als Erster auf, dann ein Café direkt am Hafen, das Frühstück für Leute anbot, die keine Lust hatten, sich selbst eins zu machen. Sie hatte zwar schon ge-frühstückt, war aber wieder hungrig geworden, also kaufte sie sich die Times und ging dann in das Café, wo sie sich ein 540
Schinkensandwich und eine Tasse Tee bestellte. Es war die erste Zeitung, die sie seit ihrer Flucht aus Harlden in Händen hielt.
Auf der Titelseite war die für die Zeitungslandschaft im August übliche Mischung aus Belanglosigkeiten. Ein Rekord-regen im Westen Schottlands wurde immerhin mit dem Foto eines Mannes dokumentiert, der in einem Kanu an einem Schild vorbeipaddelte, das Richtung Stadtmitte zeigte. Auf der nächsten Seite wurde der Außenminister kritisiert, der lieber Urlaub in Portugal machte, als auf eine Rebellion in Zentralafrika angemessen zu reagieren, und über die neueste Freundin von Prince William spekuliert.
Seite drei widmete sich den Inlandsnachrichten, vor allem dem Mord an einer Achtzehnjährigen, die vor drei Tagen in ihrem Elternhaus getötet worden war, und der Fahndung nach dem mutmaßlichen Täter. Es war deprimierend, aber auf Nightingale hatte es eine eigenartige Wirkung. Anstatt den Artikel zu lesen und weiterzublättern, betrachtete sie ihn fast so wie Beweismaterial, das untersucht und ausgewertet werden musste. Es war ein
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