Crescendo
waghalsiges Verbrechen, offenbar das Werk eines besessenen Psychopathen. Sie murmelte dem Caféinhaber ein leises »Bin gleich wieder da« zu, ging hinaus und kaufte sich den Telegraph und die Daily Mail. Ohne auf die anderen Nachrichten zu achten, schlug sie in beiden Zeitungen gleich die Berichterstattung über den Mord auf. Der Telegraph zitierte ausführlich den die Ermittlungen leitenden Chief Inspector sowie einen Superintendent von der Londoner Polizei, der einen Zusammenhang zwischen dieser Tat und anderen in Wales und London für möglich hielt.
Die Polizei bat um Mithilfe bei der Fahndung nach einem gewissen David Smith, siebenundzwanzig Jahre alt, von dem ein Phantombild abgedruckt war, das Nightingale genau stu-541
dierte und sich automatisch einprägte. Zwischen den Zeilen des Artikels konnte sie lesen, dass die Polizei trotz des dringenden Tatverdachts gegen Smith nur wenig über die Beweislage publik machen wollte.
Da sich das Café langsam füllte, bestellte sie noch einen Tee, um nicht den Anspruch auf ihren Tisch zu verlieren und auch noch in Ruhe die Mail lesen zu können. Wie erwartet, wurde hier sehr viel stärker auf die menschliche Seite eingegangen. Sie las die Beschreibung von Ginnys kurzem Leben und rang mit den Tränen, als die trauernden Eltern zitiert wurden. Die Pressekonferenz der Polizei wurde ausführlich wiedergegeben, und es war ein Foto dabei. Sie erkannte Fenwick sofort und hätte fast den Tee verschüttet. Er wurde in dem Artikel nicht erwähnt, und sie verstand nicht, was er mit dem Fall zu tun hatte. War er während ihrer Abwesen-heit zurück nach London gegangen? Sie starrte lange auf sein Bild, während ihr Tee kalt wurde. Er blickte ernst, so wie sie ihn kannte. Wieder wurde ihr klar, dass er in erster Linie Po-lizeibeamter war und erst in zweiter Linie ein Mann. Nein, verbesserte sie sich, in erster Linie war er Vater.
Sie ließ die Zeitungen für spätere Gäste im Café liegen und ging die steile Straße hinauf zu dem Internetcafé. Außer dem dünnen, hungrig aussehenden Mann hinter der Theke war das Café leer. Als sie auf die eingegangenen E-Mails blickte, spürte sie gleich wieder die alte Unruhe. Außer einer neuen Nachricht von ihrem Bruder hatte sie etliche E-Mails vom Präsidium in Harlden bekommen, die sie ungeöffnet löschte, sowie eine von Fenwick. Zum Glück waren von Pandora keine dabei. Ihr Stalker hatte also endlich die Lust verloren.
Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Mail von Fenwick.
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Liebe Nightingale (Verzeihung, aber der Name passt zu Ihnen), wir versuchen verzweifelt, Sie zu finden. Es bestehen äußerst schwerwiegende Gründe, um Ihre Sicherheit besorgt zu sein. Ich möchte das nicht per E-Mail erläutern, aber die Dringlichkeit wird Ihnen hoffentlich klar werden, wenn ich sage, dass wir einen Komplizen vermuten und fürchten, dass er da weitermacht, wo W. G. aufgehört hat.
Wir müssen davon ausgehen, dass er es auf Sie abgesehen hat.
Bitte nehmen Sie die Gefahr ernst, und rufen Sie mich an. Meine Handy-Nummer haben Sie.
Mit bestem Gruß Andrew Fenwick
»Schlechte Nachrichten?« Der Mann hinter der Theke hatte sie beobachtet.
»Wie bitte?«
»Sie sehen so verstört aus.«
»Nein, alles in Ordnung, danke.«
Aber es war weiß Gott nicht alles in Ordnung. Sie dachte an die Zeitungen, die einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung des Mädchens und anderen Verbrechen erwähnt hatten, und an Fenwicks Anwesenheit bei der Pressekonferenz. Falls David Smith Verbindung zu Griffiths hatte, wäre das eine Erklärung dafür.
»Könnte ich mal kurz telefonieren?«
»Hier geht das nicht, aber unten am Hafen ist eine Telefonzelle. Eigentlich hätte ich ja gedacht, dass so eine Klassefrau wie Sie ein brandneues Handy hätte.« Er grinste und zeigte unregelmäßige Zähne und mehr Zunge, als Nightingale lieb war.
Sie antwortete ihm nicht mal. Der plumpe Annäherungs-543
versuch war ohnehin nur aufgesetzt. Sie sah ihm an, dass er in Wahrheit kein Interesse an ihr hatte. Und sie würde ihm auf keinen Fall verraten, dass diese »Klassefrau« einen leeren Akku im Handy hatte und in einer Ruine aus dem siebzehnten Jahrhundert ohne elektrischen Strom wohnte. Sie ging zu der Telefonzelle, wählte die Nummer des Präsidiums in Harlden und bat, mit Inspector Fenwick verbunden zu werden. Annes Stimme war unverkennbar.
»Tut mir Leid. Der Chief Inspector ist unterwegs. Kann Ihnen vielleicht jemand anders weiterhelfen?«
»Hier
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