Crescendo
keinerlei Reaktion, und das verriet ihm, dass sie Be-532
scheid wusste. Wenn sie irgendwelche Zweifel gehabt hätte, hätte sie angehalten und ihn mit Fragen bombardiert.
»Die liegen falsch. Das war ich nicht.« Er sagte das, damit sie ihm zustimmen konnte.
»Natürlich. Das weiß ich doch.« Ihre Stimme klang dumpf und ausdruckslos.
In diesem Moment war er wirklich von ihr fasziniert. Er starrte auf ihr aschblondes Haar, das zu dem unvermeidlichen Pferdeschwanz zusammengebunden war, auf die Sommer-sprossen und die blassblauen Augen. Trotz ihres mageren Körpers und des unscheinbaren Gesichts war sie nicht hässlich. Sie hätte einen Mann finden können. Diese unverbrüchliche Treue zu ihm deutete eher auf Dummheit hin als auf Mut, aber ihm konnte es ja egal sein. Nur noch ein paar Ta-ge, höchstens, dann wäre sie ihm nicht länger nützlich. Bei dem Gedanken musste er lächeln.
»Was ist?«
»Was soll sein?«
»Was hast du gerade gedacht?«
Jetzt, da Telford nur noch eine ferne Erinnerung war, saß er neben ihr auf dem Beifahrersitz. Der Blick durch die Windschutzscheibe hielt seine Klaustrophobie im Zaum, und das Fenster auf seiner Seite war ganz geöffnet, sodass er sich weniger eingesperrt fühlte.
»Was willst du wissen?« In seiner Stimme schwang eine leise Warnung mit.
Sie runzelte die Stirn und überlegte offensichtlich, wie sie weiterreden konnte, ohne ihn zu verärgern.
»Du hast so seltsam geguckt, mehr nicht.«
Er lachte, beugte sich vor und küsste sie mit einer Lust, die sie beide überraschte. Es war viele Jahre her, dass ihr Körper ihn irgendwie angezogen hatte, aber der Gedanke, sie zu tö-
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ten, hatte etwas Erotisierendes. Er schob eine Hand zwischen ihre Beine und zwängte seine Finger weiter nach oben. Die Verblüffung auf ihrem Gesicht belohnte ihn. Dieses Verhalten war so ungewöhnlich für ihn. Es kam fast einer Art Vorspiel nahe, etwas, womit er sich nie abgegeben hatte.
Wortlos hielt sie am Straßenrand und stellte den Motor ab.
»Da sind wir.«
Er zog die Hand weg, schenkte ihr seinen hinreißendsten
»Ich-steh-auf-dich«-Blick, den sie vermutlich noch nie zuvor gesehen hatte, und griff nach seinem Gehstock. Weil er ein kluger Junge war, humpelte er auf dem Fuß, mit dem er am Vortag umgeknickt war, obwohl es kaum noch wehtat.
In der Pension angekommen, schaltete er den Fernseher ein und vögelte sie, noch ehe sie Zeit zum Auspacken hatte.
Es war für sie beide erstaunlich befriedigend. Hinterher streichelte sie die Seite seines Gesichts, wo kein Verband war.
»So hast du mich schon jahrelang nicht mehr behandelt.«
Doch anstatt einfach nur dankbar zu sein, stellte sie eine saub-löde Frage. »Warum?«
Er konnte schlecht antworten: »Weil ich mir dabei vorgestellt habe, wie ich dich umbringe, du dämliche Kuh«, deshalb lächelte er nur geheimnisvoll.
»Schieb los und sag der Besitzerin, ich möchte mein Abendessen aufs Zimmer haben. Du kannst im Speiseraum essen, aber sei um neun wieder hier.«
Als sie aus dem Zimmer gegangen war, verbrannte er Griffiths’ Briefe ungelesen und spülte die Asche in der Toilette runter. Als die schwarzen Überreste verschwanden, erfasste ihn ein Hochgefühl. Er hatte das Mädchen getötet und war trotz extremer Risiken davongekommen. Jetzt würden sie ihn nicht mehr finden, nicht mit seiner Fähigkeit, sein Aussehen zu verändern und in der Masse unterzutauchen. In nur 534
wenigen Tagen würde er dieses Kapitel seines Lebens abschließen und ganz neu anfangen. Mit seiner Intelligenz, seinem guten Aussehen und seinem Charme würde das ein Kinderspiel werden.
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Kapitel einunddreißig
Nur das unberechenbare Wetter verhinderte, dass Nightingales Tage in öder Langeweile versanken. Wäre da nicht das Versprechen gewesen, das sie ihrer toten Halbschwester gegeben hatte, sie hätte die Farm längst verlassen, aber zuerst musste sie nun mal das Grab finden. Sie hatte voller Zuversicht angefangen, doch ihr Optimismus war inzwischen purer Entschlossenheit gewichen, während sie sich mit der Sense in der Hand methodisch vorarbeitete und nieder-gemähtes Grün hinter sich ließ, das allmählich gelb wurde.
Mit ihrer New-Age-Einstellung hatte Lulu dem Baby eine christliche Beerdigung verweigert, aber Nightingale konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter auch darauf verzichtet hatte, das Grab irgendwie zu markieren. Nach nunmehr achtundzwanzig Jahren mochte zwar alles verwittert sein, aber irgendetwas war bestimmt noch zu
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