Crescendo
Dave bis heute überzeugt war, weil er absichtlich Wasser eingesogen hatte, die Hände hatten sich leicht bewegt, aber es war kein wildes Schlagen gewesen, dann wieder Stille. Fasziniert hatte er einen Moment zugese-hen, doch dann rutschte der Wagen erneut ein Stück, und er hatte die Augen wieder gesenkt, um das letzte Stückchen des Sicherheitsgurtes durchzuschneiden. Irgendwann war sein Vater gestorben, aber Dave hatte den Augenblick verpasst, weil er mit seinem eigenen Überleben beschäftigt war.
Als der Gurt endlich nachgab, atmeten er und seine Mutter schon die letzten dreißig Zentimeter Luft im Wagen ein.
Das Dach kam bedrohlich näher. Dave schwebte vom Sitz hoch, als er sich befreit hatte, und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie ließ sich nicht bewegen.
Zuerst war er in Panik geraten, aber dann erinnerte er sich an den Physikunterricht und die Gesetze von Atmosphäre und Druck. Es lag zu viel Wassergewicht auf der Tür. Um zu 554
entkommen, musste er das Fenster öffnen, damit der Wagen vollständig geflutet wurde, und dann konnte er rausschwim-men. Seine Mutter würde natürlich ertrinken. Er schaute zu ihr hinüber, sah die hilflose Panik in ihren Augen und verachtete sie für ihre Schwäche. Sie war schon immer das willige Opfer gewesen. Selbst wenn sein Vater sie geschlagen hatte, was nicht sehr häufig und nicht sehr heftig gewesen war, hatte sie diese leidenden Augen auf sie beide gerichtet und dann weiter das Essen gekocht. Sie hatte ihm nie gezeigt, dass sie ihn liebte, selbst als er noch ganz klein gewesen war und noch immer unter den Folgen seiner problematischen Geburt gelitten hatte. Mit einem Gefühl der Befreiung wurde ihm bewusst, dass er sie hasste.
Jetzt starrte sie ihn an, flehte um Hilfe. Es war erhebend.
Er konnte der mächtigsten Frau in seinem Leben, dem Brennpunkt seiner Phobien und Phantasien, das Leben schenken oder sie dem Tod überlassen. Ihre Augen bettelten jetzt um Gnade. Er erinnerte sich daran, wie sie seine Berüh-rungen zurückgewiesen hatte, dachte an ihre misstrauischen Blicke. Ein kleiner, primitiver Teil seines Hirns, uralt und ungebildet, überlegte, wie groß die Chancen waren, ihren Gurt durchschneiden zu können, ehe das Wasser den Wagen ganz ausfüllte. Gleich null. Dieselben Zellen seines Gehirns schätzten seine eigenen Überlebenschancen ein – möglich, wahrscheinlich.
Er sah sie ein letztes Mal an, und der Anblick ihrer dichten schwarzen Haare, die auf dem Wasser trieben, zog ihn kurz in seinen Bann. Dann schüttelte er den Kopf, griff nach seinem Rucksack, kurbelte die Scheibe herunter und stemmte sich gegen die einflutenden frischen, kalten Wassermassen. Sobald die Öffnung groß genug war, schob er sich hindurch, nach oben getrieben von einem unbändigen Überlebenswillen.
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Obwohl er wusste, dass es physikalisch unmöglich war, hörte er hinter sich die Schreie seiner Mutter.
»Alles klar, Kumpel?«
Smith blickte auf, das Gesicht schweißglänzend. Ein Mann in seinem Alter, dessen Bierbauch der Schwerkraft Tribut zollte, hatte sich vorgebeugt und spähte ins Auto.
»Ja, war nur ein bisschen in Gedanken.« Er versuchte ein Lächeln.
»Aber du hast ziemlich jämmerlich ausgesehen. Du sitzt schon ’ne Ewigkeit so da, und wegen dem Verband und so hab ich schon gedacht, du hättest den Geist aufgegeben.«
Diesmal klappte das Lächeln besser, und er sah die Erleichterung auf dem Gesicht des Mannes.
»Mir geht’s gut. Vielen Dank noch mal.«
»Da bin ich beruhigt. Passen Sie auf sich auf, ja?« Der Fremde klopfte zum Abschied zweimal aufs Autodach und ging davon.
Smith schaffte es, die Wagentür zu schließen und ruckelnd anzufahren.
Er hielt sich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbe-grenzungen und fuhr wie bei einer Führerscheinprüfung. Als er endlich den Ort mit dem Internetcafé erreichte, war er in Schweiß gebadet. Es war fast Mittag, und es war heiß. Dankbar stieg er aus dem Wagen, stützte sich aufs Dach, schloss die Augen und wartete, bis sein Hemd getrocknet war. Es war sein letztes.
Besucher durften nicht mit dem Wagen in den Ortskern von Clovelly fahren, eine Vorschrift, die den malerischen Charakter des Städtchens und die altmodische Atmosphäre seiner kopfsteingepflasterten Straßen bewahren sollte. Touristen konnten auf Eseln hinunter zu dem kleinen Hafen reiten.
Smith entschied sich, zu Fuß zu gehen. Den Rucksack mit all 556
seinen irdischen Gütern schnallte er sich auf den Rücken. Die Straßen wimmelten
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