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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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Wagen sank tiefer, in einem Winkel nach vorn geneigt. Ganz langsam rutschte er auf dem schlammigen Ufer hinab in den See.
    Sein Vater hatte die Sicherheitsgurte irgendwie präpariert, sodass sie sich nicht öffnen ließen. Seine Füße wurden nass, Wasser drang durch die neuen Turnschuhe. Aber sein Vater hatte vergessen, ihm den Rucksack abzunehmen, und Dave war ein Junge, der immer gern auf alles vorbereitet war. Sein Taschenmesser steckte in der Außentasche, und er fischte es heraus und bearbeitete damit das robuste Gewebe des Gurtes.
    Das Material war widerstandsfähiger, als es aussah. Während seine Mutter schrie und der Wagen wieder ein Stück nach vorne rutschte, sägte er wie besessen und atmete dabei tief, um die Ruhe zu bewahren. Er war schließlich dafür geschaffen, Gefahren zu meistern, zu entkommen und sich neuen Gefahren zu stellen. Seit Beginn der Pubertät fühlte er sich unbesiegbar und wurde immer mutiger.
    Die Klinge wurde stumpf. Wasser leckte um seine Knie.
    Vorne stand es seiner Mutter schon bis zur Taille, wegen der Neigung des Wagens. Sie schlug auf seinen Vater ein, kratzte, flehte, aber er sagte immer nur: »Glaub mir. Wir hätten ihn nie in die Welt setzen sollen. Schon seine Geburt hätte dich fast umgebracht.«
    Dave nahm die spitze Ahle, über die alle gewitzelt hatten, damit könnte man Steine aus Pferdehufen entfernen, und fing an, Löcher in den Gurt zu bohren. Er stach so fest zu, dass er sich am Oberschenkel verletzte, was er aber erst sehr viel spä-
    ter merkte. Nachdem er eine dichte Reihe von Löchern gemacht hatte, versuchte er, den Stoff dazwischen durchzuschneiden. Manchmal klappte es, manchmal nicht, das Gewebe dehnte sich vor der Klinge. Inzwischen waren seine Finger unter Wasser. Seine Mutter hatte den Hals gereckt, um den 552

    Kopf über der schlammigen Brühe zu halten. Wieder glitt der Wagen mit einem Ruck wie in Zeitlupe nach vorn, über-wand irgendein Hindernis auf seinem unaufhaltsamen Weg in die kalte Tiefe des Sees. Sein Vater war so blöd gewesen, ausgerechnet an einer Stelle reinzufahren, wo das Ufer nur schwach geneigt war. Selbst mit gelösten Bremsen, und wie hatte seine Mutter an der Handbremse gezogen, bis ihr Mann ihr die Hand weggerissen hatte, ging es im Schneckentempo abwärts. Hätte er an Gott oder irgendein allmächtiges Wesen geglaubt, er hätte ein Dankgebet gesprochen. So jedoch lä-
    chelte er nur gequält darüber, dass es dem Schicksal offenbar gefiel, ihn immer wieder an seine Grenzen zu führen.
    Die Klinge verbog sich, und er klappte die Schere aus. Sie kam ihm zu klein vor, und einen Moment lang wurde er unsicher. Dann riss er sich zusammen und setzte die Stahlklin-gen in einem der Löcher an. Zu seiner Verblüffung gelang es ihm im Nu, den Stoff zu durchtrennen. Das nächste Stück gab schnell nach. Das dritte bot mehr Widerstand, aber er machte unermüdlich weiter.
    Es herrschte Stille im Auto. Seit dem letzten Ruck nach vorn musste seine Mutter den Mund geschlossen halten. Sein Vater, größer, den Rücken durchgestreckt, starrte geradeaus.
    Dave registrierte diese entsetzliche Grabesstille und sah kurz von seiner Arbeit auf. Genau im selben Moment, als hätte er seinen Blick gespürt, drehte sein Vater sich um und schaute über die Schulter nach hinten. Dave war schockiert, als er Tränen in seinen Augen und einen mitleidigen Ausdruck sah, keine Spur von Wut. Sein Vater wandte sich seiner Frau zu, die lautlos um ihr Leben rang, und lächelte ein liebevolles, trauriges Lächeln.
    »Es ist besser so, Liebste.« Dann blickte er wieder geradeaus und senkte den Kopf ins Wasser.

    553

    Jahre später hatte er mal einen Artikel von irgendeinem schlauen Professor gelesen, der behauptete, dass es einem Menschen unmöglich sei, sich selbst zu ertränken. Wortreich wurde da erklärt, dass die meisten Selbstmörder, die von einer Klippe oder Brücke sprangen, durch den Aufprall aufs Wasser das Bewusstsein verloren und dann ertranken. Der Professor war überzeugt, dass der Überlebensinstinkt den motorischen Funktionen innewohnte, sodass selbst jemand, der sterben wollte, nach Atem ringen würde, sobald sein Kopf unter Wasser war, dass die Lungen nach Sauerstoff schreien und die Muskeln bis zur Erschöpfung kämpfen würden, um wieder an Luft zu kommen.
    Der Artikel war überzeugend. Dave wusste, dass er falsch war. Sein Vater hatte den Kopf ohne den geringsten Widerstand ins Wasser gesenkt. Ein paar Mal hatte sein Körper ge-bebt, und zwar, wie

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