Crescendo
letzten Rest Brandy nach. Ihm machte nicht ein schlechtes Gewissen zu schaffen, sondern die Erkenntnis, dass er möglicherweise mit drinsteckte, falls irgendwas passierte. Er spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch, die Frau tot, Smith geflohen oder Smith geschnappt, die Frau am Leben. Eigentlich konnte ihm nicht viel passieren, solange Smith den Mund hielt. Und wenn er doch redete, würde er einfach alles abstreiten. Am meisten Sorgen bereitete ihm jedoch die Vorstellung, dass Smith fliehen könnte, um sich an ihm zu rä-
chen. Es war unwahrscheinlich, aber immer noch beängstigender als jede Drohung der Polizei. Seine Hand griff nach der Flasche und dem Baseballschläger, den er immer unter der Theke versteckt hielt, dann stieg er auf wackeligen Beinen die Treppe hinauf.
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Kapitel dreiunddreißig
Nightingale erwachte von den Geräuschen des Hauses bei Nacht: das Klappern einer losen Regenrinne, das Huschen von Mäusen auf dem Dachboden, das Flattern einer Fledermaus vor dem Fenster. Es waren eigentlich gewohnte Geräusche, was hatte sie also aufgeweckt? Dann kam der Schrei einer Füchsin, kurz und verängstigt.
Sie hatte keine Vorhänge an den Fenstern, und das einfal-lende Mondlicht war so hell, dass sie an ihrer Armbanduhr die Uhrzeit ablesen konnte: fast eins, eine ungesunde Zeit, um wach zu werden. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, genoss das schwache Ziehen in den Waden, von dem Wald-lauf, den sie am Nachmittag gemacht hatte. Die Minuten verstrichen, und doch wollte der Schlaf nicht wiederkommen. Sie merkte, dass sie zur Toilette musste, jedenfalls fast.
Vielleicht war das der Störfaktor. Als sie barfuß über den oberen Flur ging, die Stufen hinauf und hinunter, die die verschiedenen Ebenen des Hauses ausglichen, hörte sie ein Rascheln, als ginge da draußen etwas durchs hohe Gras. Dachse und Füchse waren nachts im Wald unterwegs, deshalb war sie nicht verängstigt, eher neugierig.
Das Geräusch hörte auf. Als sie nach draußen blickte, zer-schnitten die silbrigen und schwarzen Streifen Mondlicht, die durch die Bäume fielen, den vertrauten Anblick in eine Art optisches Puzzle, in dem alle Formen verzerrt wirkten. Sie konnte unmöglich sagen, ob da draußen irgendetwas Ungewöhnliches war, weil heute Nacht alles fremd aussah.
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Sie ging zur Toilette, wartete, bis das Geräusch der Wasserspülung verklungen war, und tappte dann zu dem oberen Flurfenster über der Haustür. Von hier aus hatte sie einen guten Blick über ihren wieder neu angelegten Garten. In der warmen Nacht war alles ruhig und still.
Als sie wieder in ihrem Bett lag, schlief sie sofort ein und träumte nicht.
Wer hätte gedacht, dass Mondlicht so hell und gleichzeitig so verwirrend sein konnte? Das hügelige Waldgebiet lag wie unter Flutlicht, taghell, nur dass alle Farbe durch undurch-dringliche Schattenflächen ersetzt worden war. Kaninchenlö-
cher, Wurzeln und alte Baumstümpfe warteten nur darauf, jede unbedachte Bewegung mit einem Sturz zu bestrafen. Er saugte an den Kratzern auf seinem Handrücken und trat erbost die Dornenranken beiseite.
Smith war zuversichtlich aufgebrochen. Trotz des Abends im Pub war er mit klarem Kopf auf die Straße getreten. Der Weg, den man ihm beschrieben hatte – eine alte, von Unkraut überwucherte Teerstraße –, war leicht zu finden gewesen, allerdings viel weiter vom Ort entfernt, als er erwartet hatte. Um halb eins war er auf das schmale Asphaltband getreten und hatte sich noch immer so frisch gefühlt wie beim Verlassen des Ortes. Nur sein Hals und sein Kiefer machten ihm jetzt noch zu schaffen. Ansonsten war er so fit wie eh und je.
Beim Gehen hatte er gespürt, wie seine von der langen Autofahrt steif gewordenen Gliedmaßen sich allmählich ent-krampften. Die ersten Meilen bewältigte er so mühelos, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. Als der Mond dann wieder hinter den Wolken hervorlugte, hatte er feststellen müssen, dass er sich verlaufen hatte. Vor ihm lag keine bewaldete Hü-
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gellandschaft. Stattdessen roch er Stechginster und hörte ein gutes Stück weiter unten das Rieseln eines Baches.
» Wenn Sie das kleine Tal erreichen, sind Sie schon zu weit.
Und kommen Sie nicht auf die Idee, nachts am Bach lang Richtung Quelle zu gehen, das ist unmöglich. «
Also hatte er ein Stück zurückgehen müssen, bis er den Pfad entdeckte, der von der geteerten Straße abging und den er beim ersten Mal übersehen hatte. Inzwischen war es ziemlich spät
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