Crescendo
Wenn er nicht fest davon ausgegangen wäre, dass ihre Aussage kein Gewicht haben würde, hätte er sie schon vor dem Prozess umgebracht. Das war ein Fehler gewesen, er hatte sie unterschätzt, was bedeutete, dass ein einfacher Tod nicht genügen würde. Sie hatte mehr verdient.
Der Telefonterror machte noch immer Spaß, und er glaubte, dass er langsam Wirkung zeigte. Sie aß kaum noch und hatte sich noch mehr von ihren Freunden und Bekannten zurückgezogen. Er wollte, dass sie genauso litt, wie Way-94
ne leiden musste, dass sie sich in ihrem eigenen Leben eingesperrt fühlte, bevor er es ihr nahm. Aber es war bald so weit.
Er war nicht für seine Geduld bekannt, und Selbstbeherrschung hielt er normalerweise für Energieverschwendung.
Sobald sie vollends verängstigt war, würde er sie töten, direkt vor der Nase ihrer Kollegen.
Er hielt an einem Zebrastreifen und winkte eine Mutter mit Kind hinüber, lächelte freundlich, als ihre Lippen ein Dankeschön formten, und fuhr weiter.
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Kapitel sieben
Bis zum Ende der Woche hatte Nightingale weitere dreiundzwanzig anonyme Anrufe erhalten sowie vier E-Mails von Pandora, in denen sie aufgefordert wurde, ein Spielchen zu spielen, und Dr. Batchelor hatte noch zweimal um ein Treffen gebeten. Schließlich überprüfte sie seine Angaben und willigte dann doch in ein Gespräch am Telefon ein, nur um ihn loszuwerden.
Batchelor hatte es anscheinend nicht eilig, über Griffiths zu sprechen, und Nightingale war nicht gewillt, das Thema von sich aus anzusprechen.
»Sie werden mich nicht fragen, nicht wahr?«
»Wonach fragen, Doctor?«
»Nach Griffiths.«
»Wieso sollte ich?«
»Na schön. Reden wir nicht drum herum. Es kommt vor, dass ein Opfer ein anhaltendes Interesse am Täter zeigt. Das ist ganz alltäglich.«
»Ich bin nicht alltäglich«, sagte sie, »und ich bin kein Opfer.« Sofort bedauerte sie ihre Bemerkung. Sie hatte es nicht nötig, ihm irgendwas zu erklären.
»Aber Sie wurden überfallen. Und verletzt.«
»Na und? Das ist passiert, als er sich gegen seine Festnahme gewehrt hat.«
»Verstehe.« Er sollte ihr Fragen zu Griffiths stellen, nicht sie analysieren.
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»Kommen Sie zur Sache, Doctor, ich hab viel zu tun.«
»Also gut. Ich spreche ein- oder zweimal die Woche mit Wayne. Nach seiner Verurteilung war er selbstmordgefährdet, jetzt ist er nur noch depressiv.«
»Er macht ja richtig Fortschritte.«
Batchelor nahm ihre Bemerkung ernst.
»Ja, aber jetzt komme ich einfach nicht mehr weiter mit ihm.«
»Sie arbeiten doch erst sechs Wochen mit ihm. Sie müssen Geduld haben.«
»Aber ich finde keinen Weg, wie ich seine Fassade durch-brechen kann. Ich suche nach irgendeiner Erkenntnis, die mir bei der Therapie weiterhilft.«
»Dass Sie sich an jemanden wie mich wenden, entspricht nicht gerade den Vorschriften. Sprechen Sie mit seinen Angehörigen oder haben Sie Geduld. Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen soll.«
»Er hat keine Angehörigen, zumindest behauptet er das, und in seiner Akte steht auch nichts von irgendwelchen Freunden.«
»Tja, tut mir Leid, Dr. Batchelor, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen … es sei denn, Sie verschweigen mir irgendwas.« Es war eine Feststellung, keine Frage, aber kaum hatte Nightingale die Worte ausgesprochen, hätte sie sie am liebsten wieder zurückgenommen. Sie wollte nichts mehr mit Griffiths zu tun haben. Sie hatte schon genug Albträume und brauchte keinen Stoff für weitere. Batchelor reagierte mit spürbarer Erleichterung.
»Sie haben Recht. Ich wollte Ihnen keine Angst machen, aber mir bleibt anscheinend keine andere Wahl. Griffiths hat Artikel über die Ermittlungen und den Prozess gesammelt.
Ich dachte, es würde ihm helfen, die Schuldgefühle zu verar-97
beiten, die meiner Ansicht nach seinem Problem zugrunde liegen.«
»Ich bitte Sie! Der Mann ist ein Soziopath. Er weiß gar nicht, was Schuldgefühle sind. Er wird einzig und allein von dem Verlangen getrieben, über jeden Menschen, auf den er sich fixiert, Macht und Kontrolle auszuüben.«
»Das ist eine Sichtweise«, erwiderte Batchelor mit uner-wartetem Sarkasmus, »ich habe eine andere.«
Seine gespielte Ruhe ging Nightingale auf die Nerven.
»Dann würde mich interessieren, wie Ihre Sichtweise aussieht.«
»Meine Diagnose unterliegt der Schweigepflicht.«
»Ich dachte, Sie hätten noch keine Diagnose gestellt.«
Sie konnte aus dem Seufzer Verärgerung heraushören und beschloss, das Gespräch zu beenden. Es
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