Crime
fünfundvierzig Minuten fliegen vorbei, aber dann zieht sich die Zeit. Lennox spürt es während der Halbzeit. Dieses Gefühl, dass das Leben mitreißt, vergeht wie das Herbstlicht. Die Hearts haben gegen das frischer aufspielende Dundee standgehalten, mehr aber auch nicht. Es keimt der Eindruck, dass ein Tag des Triumphs in etwas anderes umschlagen könnte. Vor den Ruhm haben die Götter den Schmerz gesetzt. Enttäuschung liegt über dem Stadion, dann eine kaum unterdrückte Wut.
Zur Halbzeit ist Mercers Magen in solchem Aufruhr, dass er weder das vom gastgebenden Präsidenten angeboteneEssen noch einen weiteren Drink anrühren kann. Er hat die Kunde aus Paisley vernommen, dass St. Mirren sich Celtic kampflos ergibt, das fleißig dabei ist, den Vorsprung der Hearts im Torverhältnis dahinschmelzen zu lassen. Jetzt reicht ein Treffer von Dundee, um Edinburgh um den Titel zu bringen. Wie jeder Hearts-Fan im Stadion spürt Mercer, dass sie unbedingt Tore machen müssen, um die Nase vorn zu haben. Von der Bank hat er gehört, dass Alex MacDonald die Mittelfeldspieler Whittaker und Black rausgenommen hat, weil beide zu erschöpft waren. Mercer spürt den Schweiß auf seiner Stirn und marschiert zum Waschraum, um ihn abzuwischen und sein lichter werdendes Haar wieder zu ordnen. Er pinkelt, wäscht sich die Hände und flucht, als ihm kochend heißes Wasser aus dem Warmwasserhahn die Hände verbrüht. Zu spät fällt ihm das Warnschild VORSICHT SEHR HEISSES WASSER über dem Waschbecken auf.
Er schüttelt sein Unbehagen ab, schaut in den Spiegel und setzt sein berühmtes Grinsen wieder auf. Mercer hat genug Erfahrung vor Kameras und im Business, um zu wissen, dass Angst und Sorge Emotionen sind, die man besser verbirgt. Er zieht sich die Krawatte wieder fest; er hatte gar nicht mitbekommen, dass er sie in den ersten fünfundvierzig Minuten fast vom Hals gezerrt hatte. Als Anhänger positiven Denkens sagt er sich: Wir waren neunzig Minuten von der Meisterschaft entfernt, jetzt sind es nur noch fünfundvierzig. So weit, so gut also. Aber andere Gedanken drängen sich dazwischen: Er hat genug Spiele miterlebt, um zu wissen, wie sich temporale Anomalien im Sport auswirken können, dass ein früh kassiertes Tor einem Zeit geben kann, sich neu zu ordnen und zurückzuschlagen. Ein spätes Tor hingegen … Er kennt dieses Anspruchsdenken, das der Erfolg denen mitgibt, die ihn schon erleben durften; er bezweifelt, dass Celtic, die Rangers oder selbst Aberdeenunter Alex Ferguson zu diesem Zeitpunkt einknicken würden.
Doch am schlimmsten– der Geschäftsmann, der logisch denkende Risikoabwäger in ihm beginnt zu flüstern: Wenn du in einunddreißig Spielen in Folge unbesiegt geblieben bist– erhöht das nicht die Wahrscheinlichkeit, dass du im zweiunddreißigsten geschlagen wirst? Er denkt an die fantastische Serie, vergleicht die einzelnen Spiele, versucht, zwischen den großartigen Siegen, bei denen der Gegner vom Platz gefegt wurde, und den Partien, die sie nur mit Glück gewonnen haben, abzuwägen. Ihm ist schmerzlich bewusst, dass es der Mannschaft an Klasse fehlt. Sie haben den blitzschnell zuschlagenden Robertson, Colquhouns mitreißende Sturmläufe und Leveins lässige Eleganz und Übersicht in der Abwehr, aber der Rest waren reine Handwerker und alte Kämpen, die in einer gut aufgestellten, effizienten Mannschaft rackerten und schufteten. Und den Motor der Mannschaft hatte das Virus außer Gefecht gesetzt. Mit einem stummen Gebet auf den Lippen kommt Mercer aus der Toilette und begibt sich zurück in seine Loge auf der Tribüne. Les Porteous, der Vereinsvorsitzende, sagt etwas, das er nicht mitbekommt, quittiert die gute Absicht aber mit einem Nicken und einem Lächeln. Anpfiff zur zweiten Halbzeit.
Im Getümmel rüpelhafter Gleichaltriger hat Ray Lennox plötzlich Schuldgefühle, weil er nicht mit seinem Dad hier ist. Woraus sich die unausgesprochene Schlussfolgerung ergibt, dass es nur angemessen wäre, wenn Vater und Sohn das Spiel zusammen sähen, dieses historische Match, in dem die Hearts sich die Meisterschaft holen. Er lässt verlauten, dass er vorhat, seinen Alten zu suchen. Im Gehen hört er eine abschätzige Bemerkung. Dreht sich um und sieht ein paar von den Jungs, unter ihnen Les, die ihn auslachen. Aber da ist er schon ein paar Stufen weiter unten und schlängelt sich durch die Menge, ohne sich noch einmal umzusehen.Er berührt den Flaum unter seiner Nase. Verwünscht murmelnd den Verräter Les, den
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