Crisis
der Diagnose und der Persönlichkeit des Patienten den individuellen Bedürfnissen anpassten. Die kürzesten Termine dauerten fünfzehn Minuten und wurden für schnelle Kontrolluntersuchungen bei gut unterrichteten Patienten angesetzt, die alle Anweisungen ihres Arztes befolgten, während die längsten hingegen anderthalb Stunden in Anspruch nahmen. Termine, die über eine Stunde dauerten, wurden im Allgemeinen an neue Patienten mit bereits bekannten ernsten gesundheitlichen Problemen vergeben. Für weitgehend gesunde neue Patienten wurden zwischen fünfundvierzig Minuten und einer Stunde eingeplant, je nach Alter und Grad der Beschwerden. Wenn im Laufe des Tages ein unvorhergesehenes Problem auftrat, etwa ein Patient auch ohne einen Termin dringend behandelt werden musste oder Craig ins Krankenhaus gerufen wurde, was beides an diesem Tag nicht vorgekommen war, rief Marlene die nachfolgenden Patienten an, um den Termin zu verschieben, falls dies möglich und angemessen war.
Infolgedessen passierte es nur selten, dass Patienten in Craigs Praxis warten mussten, und genauso selten litt er unter dem Druck, hinter seinem Terminplan zurückzuliegen und die verlorene Zeit aufholen zu müssen. Es war eine zivilisierte Form, Heilkunst zu praktizieren, und sehr viel besser für beide Seiten. Inzwischen ging Craig wieder gerne in die Praxis. Es war die Art des Praktizierens, die er sich vorgestellt hatte, als er davon geträumt hatte, Arzt zu werden. Das einzige kleinere Ärgernis in dieser ansonsten perfekten Situation war die Tatsache, dass es ihm nicht gelungen war, seine Beziehung zu Leona vollständig geheim zu halten. Es gab allerlei Vermutungen, und Leona nährte sie in ihrem jugendlichen Eigensinn auch noch. Folglich war Craig ständig der unterschwelligen Missbilligung von Marlene und seiner Arzthelferin Darlene ausgesetzt und musste ihr passiv-aggressives Verhalten Leona gegenüber mit ansehen.
»Du hörst mir gar nicht zu!«, beschwerte sich Leona ärgerlich. Sie bedachte Craig mit einem zornigen Blick. Beide hatten ihr Gesicht den Aufzugtüren zugewandt, während sie in die Tiefgarage hinabfuhren.
»Natürlich höre ich dir zu«, log Craig. Er lächelte, aber damit war Leonas aufbrausende Gereiztheit nicht beschwichtigt.
Die Aufzugtüren öffneten sich auf dem Parkservice-Deck, und Leona stolzierte hinaus und gesellte sich zu einem halben Dutzend Leute, die auf ihre Wagen warteten. Craig folgte ein paar Schritte dahinter. Relativ abrupte Stimmungsschwankungen waren eine Seite von Leonas Charakter, den Craig nicht besonders schätzte, aber sie beruhigte sich meist schnell wieder, wenn er sie einfach ignorierte. Hätte er sich ein paar Minuten zuvor in der Empfangshalle nicht beherrschen können und sie auf ihren Akzent angesprochen, sähe die Sache ganz anders aus. Ein einziges Mal hatte er eine solche Bemerkung fallen gelassen; darauf war eine zwei Tage anhaltende Verstimmung gefolgt.
Craig reichte einem der Angestellten seinen Parkzettel.
»Roter Porsche, kommt sofort, Dr. Bowman«, sagte der Mann und tippte salutierend mit dem Zeigefinger an den Schirm seiner Kappe, ehe er davonsprintete.
Craig lächelte innerlich. Er war stolz darauf, den, wie er fand, heißesten Wagen in der ganzen Tiefgarage zu besitzen, das genaue Gegenteil des Volvo Kombi, den er in seinem früheren Leben gefahren war. Craig mutmaßte, dass die Leute um ihn herum gebührend beeindruckt sein würden. Die Männer vom Parkservice jedenfalls waren es offensichtlich, was schon alleine daran zu erkennen war, dass sie seinen Wagen immer dicht bei ihrem Stand parkten.
»Wenn ich ein wenig abwesend wirke«, flüsterte Craig Leona zu, »dann nur, weil ich mich auf unseren Abend freue: den ganzen Abend.« Er zwinkerte ihr vielsagend zu.
Leona musterte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue, was darauf schließen ließ, dass die Erklärung sie nur zum Teil besänftigte. Denn die junge Frau verlangte in jeder einzelnen Sekunde seine volle Aufmerksamkeit.
Im gleichen Moment, als Craig irgendwo in der Nähe das vertraute Aufheulen und Röhren seines Wagens vernahm, rief jemand hinter ihm seinen Namen. Vor allem die Tatsache, dass seine mittlere Initiale M. genannt wurde, ließ ihn aufhorchen. Nur wenige Menschen kannten diese Initiale, und noch weniger wussten, dass sie für Mason stand, den Mädchennamen seiner Mutter. Craig drehte sich um und erwartete, einen Patienten oder vielleicht einen Kollegen oder einen alten Schulfreund zu sehen.
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