Cromwell, Bernard
derselben Größe wie die erste Perle, und zwar direkt daneben — »sie wächst
und stirbt, wird dann abermals wieder geboren.« Nun entstand ein dritter
Kreis. Was Camaban jetzt dargestellt hatte, sah wie drei Perlen aus, die fast,
aber nicht ganz, einen Quadranten des großen Sonnenkreises ausfüllten. »Sie
wird geboren, sie stirbt«, erklärte er unermüdlich, während er weitere kleine
Kreise schuf, bis es insgesamt zwölf waren. Dann hielt er inne. »Siehst du?«,
sagte er und zeigte mit der Pfeilspitze auf die Lücke zwischen der ersten und
der letzten Perle.
Der Kreis wies jetzt zwölf Perlen auf. »Zwölf Monde in
jedem Jahr«, sagte Camaban, »aber das Rätsel liegt hier.« Er tippte auf den
kleinen Zwischenraum, der zwischen dem ersten und dem letzten der Mondkreise
geblieben war.
Haragg wandte sich an Saban, eifrig darauf bedacht, ihm
den Zusammenhang klar zu machen. »Das Mondjahr ist kürzer als das Sonnenjahr.«
Das verstand Saban. Die Priester in Ratharryn — und nicht
nur sie, sondern Priester im ganzen Land — hatten schon lange erkannt, dass das
Mondjahr aus zwölf zunehmenden und abnehmenden Monden kürzer war als die große
Kreisbahn der Sonne über dem Himmel; aber Saban hatte sich nie sonderlich viele
Gedanken über diese Ungleichheit gemacht. Es war eines der ewigen Rätsel des
Lebens, genauso wie die Frage, warum Hirsche nur einen Teil des Jahres ein
Geweih trugen, oder warum die Schwalben im Winter fortflogen. Er schaute jetzt
zu, wie Camaban einen menschlichen Oberschenkelknochen aus seinem Beutel
klaubte.
»Als ich ein Kind war«, begann Camaban erneut, »habe ich
in unserem Alten Tempel gesessen und den Himmel beobachtet. Ich bin oft in das
Totenhaus gegangen und habe Knochen gestohlen, und ich habe die Knochen so wie
diesen hier markiert.« Er reichte Saban den Gegenstand. »Hier, schau mal her«, wies
er seinen Bruder an und zeigte dabei auf eine Reihe kleiner Zeichen, die in
eine lange Seite des Knochens geritzt waren. »Diese Zeichen sind die Tage des
Sonnenjahrs.«
Saban musste den Knochen ziemlich nahe vor die Augen
halten, denn die Zeichen waren sehr fein; aber er konnte Hunderte winziger
Kerben erkennen, viel zu viele, um sie zu zählen, und jede winzige Kerbe markierte
einen Tag und eine Nacht, die alle zusammen ein Jahr ergaben. »Und diese
Zeichen hier« - Camaban zeigte Saban eine zweite Reihe von Kerben, die
parallel zu der ersten verlief - »sind die Tage des Wachsens und Sterbens des
Mondes. Sie symbolisieren zwölf Geburten und zwölf Tode.« Die zweite Reihe von
Kerben war geringfügig kürzer als die erste.
Saban hob den Knochen abermals dicht vor seine Augen und
benutzte einen Fingernagel, um die zusätzlichen Tage der Sonnenlinie zu
zählen. »Elf Tage?«, fragte er.
»Soweit ich es erkennen kann«, bejahte Camaban. Sein
verächtlicher Ton war verschwunden, ersetzt durch eine ernste Bescheidenheit.
»Aber es ist schwierig, die Tage zu zählen. Ich habe viele Knochen über viele
Jahre benutzt, um meine Beobachtungen festzuhalten;
manchmal waren zu viele Wolken am Himmel, und ich musste
die Tage des Mondes schätzen — in manchen Jahren war der Unterschied größer als
elf Tage und manchmal auch kleiner.« Er nahm Saban den Knochen aus der Hand.
»Aber dieser Knochen hier stammt aus dem besten Jahr, und er sagt dasselbe aus
wie die meisten anderen. Er sagt mir, dass das Muster unterbrochen ist.«
»Das Muster?«
»Die Kreise sollten sich treffen!«, meinte Camaban
grimmig, während er auf das Diagramm zeigte, das er in den Boden geritzt hatte.
»Diese Lücke hier« — er legte den Finger auf den Zwischenraum zwischen den
Perlen, die den Mond darstellten — »ist elf Tage lang. Aber sie sollte nicht da
sein.« Er erhob sich wieder und begann abermals, erregt hin und her zu wandern.
»Alles in der Welt hat einen bestimmten Zweck«, dachte er laut nach, »denn ohne
Zweck gibt es keinen Sinn. Und der Sinn ist in dem Muster zu finden. Nacht und
Tag, Mann und Frau, Jäger und Beutetier, die Jahreszeiten, die Gezeiten! Sie
alle folgen einem ganz bestimmten Muster, einer ganz bestimmten
Gesetzmäßigkeit! Die Sterne folgen einem Muster. Die Sonne folgt einem Muster,
der Mond folgt einem Muster — aber diese beiden Muster sind unterschiedlich,
und die Welt ist in zwei Teile gespalten.« Camaban deutete auf das Meer.
»Einige Muster richten sich nach der Sonne, andere nach dem Mond. Das Getreide
entwickelt sich mit der Sonne und wird mit der
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