Cromwell, Bernard
ihn.
»Töte ihn!«, schrie Neel.
»Töte ihn!«, brüllte Hengall.
»Töte ihn!«, rief Lengar.
»Töte ihn!«, hetzte die Menge.
Aber Hirac konnte sich nicht rühren. Camaban verzehrte
noch mehr Kreidestaub, dann blickte er zu dem Priester auf. »Slaol befiehlt
dir, mich zu verschonen«, sagte er sehr ruhig, noch immer ohne jedes Stammeln.
Hirac wich einen Schritt zurück, trat dabei fast in das
Grab und ließ den Kindstöter fallen. »Die Göttin«, verkündete er mit rauer
Stimme, »hat das Opfer zurückgewiesen!«
Die Menge brach in lautes Wehklagen aus. Saban, die Augen
voller Tränen, lachte glücklich. Und der verkrüppelte Junge war frei.
3. KAPITEL
I n Ratharryn herrschte nach der
missglückten Opferung große Furcht - denn es gab nur wenige Omen, die noch
unheilvoller waren als ein Gott, der ein Geschenk zurückwies. Hirac wollte
nicht sagen, warum er sich geweigert hatte, den Jungen zu töten, nur dass die
Götter ihm ein Zeichen geschickt hätten; dann verzog er sich in seine Hütte.
Seine Ehefrauen erklärten, er litte an einem Fieber, und zwei Tage später
wehklagten ebendiese Ehefrauen laut in der Dunkelheit, weil der Hohepriester
tot war. Sie gaben Camaban die Schuld daran, behaupteten, der Krüppel hätte
Hirac verflucht; aber Gilan, der jetzt der älteste Priester von Ratharryn war,
erklärte, dass es absurd und unsinnig gewesen sei, ein Kind töten zu wollen,
das mit Lahannas Symbol gezeichnet war. Hirac habe ganz allein sich selbst die
Schuld daran zuzuschreiben, sagte Gilan, weil Hirac die Botschaft der Götter
erbärmlich falsch gedeutet habe. Das Gold war in den Alten Tempel gelangt, und
ganz zweifellos wollte Slaol, dass der Tempel neu aufgebaut wurde. Hengall hörte
Gilan an, der ein heiterer, tüchtiger Mann war, aber wegen seiner Bewunderung
für Cathallo häufig auf Misstrauen stieß. »In Cathallo«, drängte Gilan Hengall,
»haben sie einen riesengroßen Tempel für alle Götter, und er leistet ihnen
gute Dienste. Wir sollten auch so einen errichten.«
»Tempel kosten ein Vermögen«, erwiderte Hengall düster.
»Wenn du die Götter ignorierst«, gab Gilan zurück, »werden
dir selbst alles Gold, alle Bronze und aller Bernstein der Welt nichts
nützen.«
Gilan wollte der nächste Hohepriester sein, aber sein
Alter allein würde ihm diese Ehre nicht einbringen. Dafür war ein Zeichen der
Götter erforderlich, und alle Priester suchten nach solchen Zeichen, bevor sie
gemeinsam einen der ihren als Hiracs Nachfolger wählten. Dennoch schienen
sämtliche Zeichen schlecht zu stehen, denn in den Tagen, die auf die
gescheiterte Opferung folgten, wurden die Krieger von Cathallo sogar noch
dreister bei ihren Raubzügen durch Hengalls Territorium. Tag für Tag hörte
Hengall von gestohlenen Rindern und Schweinen; Lengar drängte darauf, die
Kriegstrommel zu schlagen und einen Verband von Speerkämpfern nach Norden zu
schicken, um den Plünderern das Handwerk zu legen. Aber Hengall scheute noch
immer vor einem Krieg zurück. Statt Speerkämpfer auszuschicken, sandte er
Gilan in den Norden, um mit den Herrschern von Cathallo zu sprechen; jeder
wusste, dass das in Wirklichkeit bedeutete, mit Sannas zu verhandeln, der
Furcht einflößenden Zauberin. Cathallo mochte zwar einen Clanführer haben sowie
große Heerführer — aber tatsächlich herrschte Sannas dort, und viele in Hengalls
Stamm befürchteten, dass sie Ratharryn mit einem Fluch belegt hatte. Warum
sonst war die Opferzeremonie fehlgeschlagen?
Und die Omen wurden noch schlimmer. Ein Kind ertrank im
Fluss, ein Otter riss ein Dutzend Fischreusen entzwei, in Arryns und Mais
Tempel wurde eine giftige Schlange gesichtet, und Hengalls neue Ehefrau hatte
eine Fehlgeburt. Graue Regenbänder zogen von Westen herüber. Gilan kehrte aus
Cathallo zurück, erstattete Hengall Bericht, dann wanderte er abermals in den
Norden; der Stamm rätselte darüber, welche Nachrichten der Priester mitgebracht
hatte und welche Antworten er der Herrscherin von Cathallo übermitteln sollte;
aber der Clanführer sagte nichts, und die Leute von Ratharryn gingen weiter
ihren Tätigkeiten nach. Es galt Gefäße zu töpfern, Feuerstein zu schlagen,
Häute und Felle zu gerben, Schweine zu hüten, Kühe zu melken und Wasser zu
holen; Gebäude mussten repariert, Fischreusen aus Weidenruten geflochten und Einbäume
aus den riesigen Waldbäumen geschlagen werden. Eine Gruppe von Händlern traf
von der Südküste ein, ihre Ochsen beladen mit Schalentieren, Salz
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