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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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aus ihren Armen gehoben. Sie
hörte ihre dünne Stimme, Lacey, Lacey, Lacey, und
dann das dumpfe Zuschlagen der Autotüren, als Amy im Wagen eingesperrt wurde.
Sie hörte Motorengeräusch, Reifen auf dem Asphalt, einen Wagen, der mit hohem
Tempo wegfuhr. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
    »Nehmt mich nicht mit, nehmt mich nicht mit«,
schluchzte sie. »Nehmt mich nicht mit, nehmt mich nicht mit, nehmt mich nicht
mit.«
    Claire war an ihrer Seite. Sie legte ihr einen
Arm um die bebenden Schultern. »Schwester, es ist schon gut«, sagte sie, und
Lacey hörte, dass sie auch weinte. »Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«
    Aber das war sie nicht. Niemand war in
Sicherheit, nicht Lacey, nicht Claire, nicht Arnette, nicht die Frau mit dem
Baby und nicht der Wärter in dem gelben Hemd. Das wusste Lacey jetzt. Wie
konnte Claire sagen, es sei alles gut? Nichts war gut. Das war es, was die Stimmen
all die Jahre zu ihr gesagt hatten, seit jener Nacht auf dem Feld, als sie noch
ein Mädchen gewesen war.
    Lacey Antoinette Kudoto. Hör zu. Schau.
    Vor ihrem geistigen Auge sah sie es, sah endlich
alles: die wogenden Armeen und die Flammen der Schlacht, die Gräber und Gruben
und die Todesschreie von hundert Millionen Seelen, die Dunkelheit, die sich
über die Erde ausbreitete wie ein schwarzer Flügel, die letzten, bitteren
Stunden voller Grausamkeit und Leid und letzter, furchtbarer Fluchten, die machtvolle
Herrschaft des Todes über alles, und zum Schluss die leeren Städte, erstarrt in
der Stille von hundert Jahren. Das alles hatte bereits begonnen. Lacey weinte,
und dann weinte sie noch mehr. Denn während sie in Memphis auf dem Randstein
kauerte, sah sie vor ihrem geistigen Auge auch Amy, ihre Amy, die Lacey nicht
retten konnte, wie sie sich selbst damals nicht hatte retten können. Amy, wie
sie in Ewigkeit durch die vergessene, lichtlose Welt wanderte, allein und ohne
Stimme außer dieser:
    Was mache ich denn, was mache ich denn, was
mache ich denn.
     
    7
     
    Carter war irgendwo, wo es kalt war. Das war das
Erste, was er feststellte. Sie holten ihn als Ersten aus dem Flugzeug - Carter
war in seinem ganzen Leben noch nie geflogen, und er hätte gern einen Fensterplatz
gehabt, aber sie hatten ihn ganz hinten zu all den Rucksäcken hineingestopft
und sein linkes Handgelenk an ein Rohr gekettet, und zwei Soldaten hatten ihn
bewacht -, und als er auf die Treppe trat, die hinunter auf das Rollfeld
führte, fuhr die kalte Luft in seine Lunge wie ein Stich. Carter hatte schon
öfter gefroren; man konnte nicht im Januar in Houston unter der Autobahn
schlafen, ohne zu wissen, was Kälte war, aber die Kälte hier war anders, so
trocken, dass er spürte, wie seine Lippen sich runzelten. Außerdem hatte er
einen Druck auf den Ohren. Es war spät - er wusste nicht genau, wie spät -, doch der Flugplatz war beleuchtet wie ein
Gefängnishof. Carter zählte ein Dutzend Flugzeuge, große, dicke mit riesigen
Luken, die hinten heruntergeklappt waren wie der Hosenboden eines
Kinderpyjamas. Gabelstapler fuhren auf dem Rollfeld hin und her und verluden
mit Tarnplanen bedeckte Paletten. Ob sie so etwas wie einen Soldaten aus ihm
machen würden? Hatte er dafür sein Leben eingetauscht?
    Wolgast: Er erinnerte sich an den Namen.
Komisch, dass er ihm unversehens vertraut hatte. Carter hatte schon seit
langer, langer Zeit niemandem mehr vertraut. Aber etwas an Wolgast ließ ihn
denken, dass der Mann wusste, was er tat.
    Carter trug Ketten an Händen und Füßen, und so
stieg er vorsichtig die Stufen der Gangway hinunter, um nicht das Gleichgewicht
zu verlieren. Ein Soldat ging vor ihm, einer hinter ihm. Keiner von ihnen
hatte ein Wort mit ihm oder, soweit Carter es mitbekommen hatte, mit dem andern
gesprochen. Er trug einen Parka über dem Overall, aber wegen der Ketten war der
Reißverschluss offen, und der Wind pfiff ungehindert hindurch. Sie führten ihn
über das Rollfeld zu einem hellerleuchteten Hangar, wo ein Van mit laufendem
Motor wartete. Die Schiebetür glitt auf, als sie näher kamen.
    Der erste Soldat stieß ihm sein Gewehr in die
Rippen. »Rein da.«
    Carter gehorchte. Die Tür schloss sich.
Zumindest die Sitze waren bequem, anders als die harte Bank im Flugzeug. Das
einzige Licht kam von einer kleinen Lampe unter der Decke. Draußen wurde
zweimal gegen die Tür geschlagen, und der Van fuhr los.
    Er hatte im Flugzeug gedöst und konnte nicht
mehr schlafen. Ohne Fenster und ohne Uhr fehlte ihm jedes Gefühl dafür, in
welche

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