Crossfire 1: Kontakt
Planet drei Monde
hatte.
»Aaahhhhhhhh«, gab Goldmann in tiefster Zufriedenheit
von sich – und übergab sich in seinen Sarg.
Nachdem Shipley und Tariji seinen Zustand stabilisiert hatten,
nachdem er angezogen war und auf einem Stuhl in der Messe saß,
weckten sie Barrington, Thekla Belia, Landwirtschaftsexpertin. Diese
wollte nach dem Aufwachen als Erstes wissen, was für Pflanzen
sich dort unten als essbar erwiesen hatten.
»Bis jetzt keine«, sagte Tariji, »weil bisher
niemand versucht hat, eine davon zu essen. Glauben Sie etwa, das
Festmahl fängt ohne Sie an? Dort unten leben bisher alle von den
Vorräten aus der Ariel, Doktor, und ansonsten von
Glück und Arbeit.«
»Ich möchte runter!«
»Bald. Zuerst einmal werden Sie sich die Eingeweide aus dem
Leib kotzen, und wir müssen noch zehn weitere Leute wecken.
– Und da kommt’s auch schon! Das ist gut, lassen Sie alles
raus.«
Als sie den neunten Siedler weckten, verspürten die ersten
bereits Heißhunger. Shipley führte sie zu der kleinen
Bordküche, außer Sichtweite der frisch Geweckten, die noch
unter Übelkeit litten. Dort zeigte er ihnen, wie man beim
Portionierer eine Bestellung eingab und den Autokoch benutzte. Danach
kehrte er in die Bibliothek zurück.
»Frayne, Naomi Susan«, verkündete Tariji – und
Shipley erstarrte.
Naomis Kühlsarg glitt an seinen Platz. Die Elektronik summte
leise, der Deckel öffnete sich. Naomi – Nan wollte sie
genannt werden, wie er sich im Stillen ermahnte – versuchte sich
aufzusetzen. Ihr Körper war so dünn, dass ihr
Schlüsselbein wie ein Kleiderbügel unter der Haut
hervorragte. Ihr geschorener Schädel mit den Tätowierungen
und dem künstlichen Hautwulst schimmerte leicht bläulich.
Die Metallimplantate auf ihren kleinen Brüsten funkelten.
»Meine Güte, Sie haben ja kein Gramm Fett am
Körper«, stellte Tariji fest. »Wie wollen Sie sich
denn warm halten?«
Naomi versuchte zu sprechen, aber sie brachte kein Wort hervor.
Gut so, dachte Shipley. Sie hätte Tariji für ihre
aufdringliche Besorgnis angefahren.
Tariji sagte: »Willkommen auf Greentrees, Miss
Frayne.«
Naomi blickte zum Fenster. Diesmal war der Planet nicht in Sicht,
nur Sterne. Ihre Mundwinkel fielen nach unten.
»Sitzen Sie einfach eine Minute still. Es wird Ihnen ein
wenig schlecht gehen«, erklärte Tariji fröhlich.
Naomi funkelte erst sie wütend an, dann Shipley.
»Du… hier. Schon.«
»Ja, Naomi. Ich bin hier.«
»Hätte… wissen sollen. Kein…
Entkommen.«
Tariji schaute verwirrt drein. Shipley erklärte: »Tariji
Brown, das ist meine Tochter.« Im selben Augenblick beugte sich
Naomi über die Kante ihres Kühlsargs und kotzte mit Absicht
auf die Schuhe ihres Vaters.
Woran liegt es, wenn ein Kind vom Weg abkommt?
Jahrelang hatte Shipley nach der Antwort auf diese Frage gesucht,
in der Hoffnung, mit der Antwort auch eine Art Heilmittel zu finden.
Immer wieder hatte er sich diese Frage gestellt. Während Naomi
eine Kindheit voller Trotz durchlebte, und als sie dann kleinere
Diebstähle beging. Als die heranwachsende Naomi mit Drogen in
Berührung kam und von zu Hause fortlief. Als sie als Erwachsene
alles kaputt machte, womit sie in Berührung kam, so auch ihre
Ehe mit dem gutmütigen, liebenswerten Terry Frayne, die in einer
Katastrophe endete und schon nach wenigen Monaten geschieden wurde.
(Den Namen ihres Exmannes hatte sie behalten, weil sie den Namen
ihres Vaters nicht wieder annehmen wollte.) Als sie mit ihren
entsetzlichen Selbstverstümmelungen begann und als sie ihren
noch schlimmeren Selbstmordversuch verübte. Bei ihrer
Verurteilung wegen Raubes und während der Gefängnisstrafe,
durch die sie zumindest für fünf Jahre sicher hinter
Gittern verwahrt blieb.
Vielleicht, so dachte Shipley verzweifelt, lag es am Tod ihrer
Mutter. Naomi war damals erst sechs Jahre alt gewesen. Aber schon vor
Catherines Tod neigte sie zu Trotz und grundloser Wut.
Vielleicht war ihr Verhalten auch genetisch bedingt. Shipley war
ein Quäkerarzt der dritten Generation. Er hatte Naomis
Genanalyse gründlich durchforstet und nach bekannten
Auffälligkeiten gesucht, nach Abweichungen von der Norm. Aber
was war schon normal?
Je mehr die Menschheit über ihr eigenes Genom erfuhr, umso
mehr Vielfalt zeigte sich. Auf zellularer Ebene waren die Menschen
erstaunlich verschieden, nicht in ihrer DNA – da hatten sie
vieles gemein mit Affen, Mäusen, Fliegen oder gar
Pfirsichbäumen. Nein, die Unterschiede entstanden, wenn aus
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