Crossfire 1: Kontakt
die
»Reagenzglastheorie« nannte. Sie sprachen über Mira
City, sie schwatzten über die Leute, die sie kannten. Sie
lachten und foppten sich und liebten sich. Alles war in Ordnung.
Aber Jake war sich bewusst, dass es nun schon zwei Angelegenheiten
gab, über die sie nicht reden konnten.
»Jake, wir haben ein Problem«, teilte ihm Gail einige
Wochen später mit.
Bei Gail konnte er zumindest sicher sein, dass es kein Problem mit
den Pelzlingen war. Sie hielt die ganze Angelegenheit mit den
Fremdwesen immer noch für unerheblich. »Was für ein
Problem?«, fragte Jake. Er sah ihrer Miene an, dass es sich um
eine ernste Sache handelte.
Er ging die Liste der ihm bekannten Probleme durch: Ben Goldmann
hatte es immer noch nicht geschafft, den beschädigten Roboter zu
reparieren, der für die Verlegung des Leitungssystems gebraucht
wurde; eine hübsche, gefräßige Kreatur, die grob
einem Käfer ähnelte, hatte die Testfelder für
genetisch angepassten Weizen verwüstet; ein junger Quäker
war bei einem Arbeitsunfall verstümmelt worden; ein
kürzliches Unwetter hatte einige aufblasbare Zelte
beschädigt; ein Schlichtungsverfahren lief zwischen zwei
Siedlern – so weit waren sie schon! –, die über ein
verliehenes Ausrüstungsstück stritten, das angeblich nicht
bestimmungsgemäß verwendet worden war. Letzteres fiel in
Jakes Verantwortung.
Er hatte auf Greentrees ein Rechtssystem aufgestellt, das mit so
wenig Aufwand an Zeit, Mühe und Geld wie möglich für
Gerechtigkeit sorgen sollte. Das Vorbild waren die Gesetze der UAF
– der Vereinigten Atlantischen Föderation. Die meisten
Auseinandersetzungen wurden allerdings durch einen bindenden
Schiedsspruch entschieden, nicht vor einem Geschworenengericht. Wann
immer möglich, griff man auf juristische Computerprogramme
zurück.
Mit Ausnahme der Cheyenne hatte jeder auf Greentrees Verträge
unterzeichnet, durch die man sich ohne die Möglichkeit einer
Berufung an dieses System band. Hauptmann Scherer war bereit, es wenn
nötig durchzusetzen. Doch beinahe alle Siedler waren friedliche
Leute und neigten nicht zu Verbrechen – das galt für die
Neuen Quäker wie auch für Gails ökologisch denkende
Familie, Faisals »sanfte Diktatur« und die chinesische
Gemeinschaft. Die ethnischen Gruppen lebten innerhalb Mira Citys
größtenteils für sich, doch eine jede stand unter
enger sozialer Kontrolle der eigenen kulturellen Gemeinschaft.
»Was für ein Problem, Gail?«, wiederholte Jake, als
sie nicht antwortete. Sie saßen im Zelt der Mira Corporation.
Es war inzwischen fast ebenso voll gestopft wie das Büro auf der Ariel, obwohl es so viel größer war. Irgendwie
landete immer alles hier, was nicht gerade irgendwo verwendet wurde:
Schlafsäcke und Aufzeichnungsgeräte und Gesteinsproben und
kaputte Ausrüstung und Berichte, die irgendwer irgendwann mal
irgendwo abheften würde.
Gail antwortete immer noch nicht. Jake betrachtete sie
eingehender. Er erkannte, dass ihr Gesicht wie gelähmt war vor
Entsetzen. Ihm wurde mulmig zu Mute.
»Es geht um Nan Frayne«, sagte sie. »Sie hat einen
Krieger der Cheyenne getötet, und Larry Smith besteht darauf,
dass sie vom Stammesrat bestraft wird. Sehr wahrscheinlich wird man
sie zum Tode verurteilen.«
10. KAPITEL
Mit ausdruckslosem Gesicht saß William Shipley im Gleiter.
Er hielt die Hände so fest ineinander verschränkt, dass die
Finger blass und blutleer waren.
Sie hatten nicht gewollt, dass er mitkam. Genau genommen hatten
Jake und Gail ihm nicht einmal etwas von ihrem Flug zu den Cheyenne
erzählt. Hätte Naomi ihn nicht selbst angerufen, so
hätte er weder gewusst, was sie getan hatte, noch was ihr
möglicherweise bevorstand.
Es war unmittelbar nach einer Zusammenkunft zur Stillen Andacht
gewesen. Shipley war herausgekommen und hatte das Licht in seinem
Inneren gespürt, obwohl während der Versammlung nichts
Bemerkenswertes gesagt worden war. Aber die Ruhe, der Einklang, die
gemeinsame Andacht, die Anwesenheit der Gemeinde, wie sie
demütig auf das Licht warteten – all das brachte Segen.
Frieden füllte Shipleys Geist und sein Herz.
Sein Kommunikator meldete sich, und als er ihn einschaltete,
hörte er Naomis Stimme. »Paps? Nan hier.«
Abrupt blieb er mitten auf einem der frisch gepflasterten Wege von
Mira City stehen. Zwei weitere Pflanzenarten waren von der
biologischen Abteilung zur Bepflanzung freigegeben worden, und auf
einer Seite war der Weg von einer schmalen Reihe Blumen begrenzt.
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