Crossfire 2: Feuerprobe
nimmt nur die
unterschiedlichsten Formen an.« Lau-Wah Mah blickte keinen der
beiden anderen an, während er sprach. »Sie haben sich nie
sehr für die Geschichte der Erde interessiert, Alex. Vor
fünfzig Jahren kam das, was ihr immer noch als das
›Chinesische Kontingent‹ bezeichnet, durch die
Wohltätigkeit eines einzelnen Mannes hierher, Liu Fengmo. Er hat
verzweifelte Auswanderer und chinesische Staatsangehörige
gerettet, die systematisch verfolgt oder gar gefoltert wurden. Auf
Greentrees bekam diese Generation eine neue Chance und war dankbar
dafür. Aber ihre Enkel sehen nur, dass wir in Mira mit einer
sehr viel schlechteren Ausbildung als die Araber oder die Quäker
oder die Angehörigen der Cutler-Familie anfangen mussten. Und,
weil Fengmo so viele Menschen wie möglich nach Greentrees
bringen wollte, auch mit sehr viel weniger Vermögenswerten.
All das hat dazu geführt, dass wir weniger Einfluss haben.
Die meisten Chinesen sind Labortechniker, aber keine Laboreigner,
Landarbeiter, aber keine Landbesitzer – nicht, weil es nicht
genug Land gäbe, sondern weil die Zahl der Maschinen begrenzt
ist. Es ist immer noch eine kapitalistische Gesellschaft, und die
Chinesen halten nur einen geringen Anteil des Kapitals. Es gibt auch
noch keine freie Universität hier, und Ausbildungsstellen bei
den Wissenschaftlern und den Ärzten und die
Führungspositionen in den Betrieben sind begrenzt und werden
selten an einen von uns vergeben. Vetternwirtschaft ist in einer
Gründergesellschaft immer weit verbreitet. Das ist vielleicht
ganz natürlich so, weil der Zusammenhalt der Familie wichtig
ist, wenn es so viel zu tun gibt. Aber uns, den Chinesen, bringt es
viele Nachteile. Es stimmt, jeder hat, was er braucht. Aber manchmal
reicht das nicht, um zufrieden zu sein.«
Alex starrte Lau-Wah an. Das war die längste Rede, die sie je
von ihm gehört hatte. Ashraf Shanti öffnete den Mund, um
etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.
»Offenbar haben Sie viel darüber nachgedacht,
Lau-Wah«, stellte Alex fest. »Ich fürchte, ich habe
das nicht getan. Ich war wohl nicht aufmerksam genug. Aber was sollen
wir Ihrer Meinung nach tun?«
»Ich werde mit Wong Yat-Shing sprechen.«
»Nein, ich meine, mit dieser grundsätzlichen Lage. Was
schlagen Sie vor, dass…«
»Ich werde mit Wong Yat-Shing sprechen«, wiederholte
Lau-Wah, und diesmal hatte sein Tonfall etwas unmissverständlich
Endgültiges. Lau-Wah hatte so viel gesagt, wie er hatte sagen
wollen. Vielleicht glaubte er sogar, er hätte bereits zu viel
gesagt. Alex hatte diesen Wesenszug schon früher bei ihm erlebt:
das kurze Offnen einer Tür, die den Blick auf einen bestechend
klaren Verstand freigab und dann, ebenso plötzlich, wieder
zufiel. Privat. Zutritt verboten. Das frustrierte sie ungeheuer.
»Lau-Wah…«
»Ich werde Ihnen berichten, wenn ich etwas in Erfahrung
bringen konnte«, sagte Lau-Wah und verließ den Raum.
Alex und Ashraf starrten einander an. »Ashraf, glauben Sie,
ich sollte…«
»Ich glaube, Sie und ich sollten in dieser Hinsicht gar
nichts tun«, befand Ashraf. Er zuckte kaum merklich mit den
Schultern. »Es gibt Wichtigeres, Alex. Pelzlingsschiffe, Schiffe
von der Erde. Lau-Wah kann sich allein um die kleinlichen
Unzufriedenheiten seiner Leute kümmern.«
Da war sie – diese Geringschätzung, von der Lau-Wah Mah
gesprochen hatte! Man tat die Chinesen allzu leicht als unbedeutend
ab – sogar Ashraf Shanti, der sicher nicht der aufmerksamste
Mensch war, aber ebenso wenig der überheblichste. Ashraf
bemerkte den eigenen Dünkel nicht einmal. War das etwa
Rassismus? Vielleicht.
Alex fragte sich, ob sie diese Angelegenheit mit Jake besprechen
sollte. Er kannte die unterschiedlichen Volksgruppen noch von der
Erde her, hatte sie für die Reise nach Greentrees angeworben,
hatte Mira City mit ihnen gemeinsam aufgebaut und sie fünfzig
Jahre lang beobachtet. Er hatte Erfahrung mit dieser Problematik.
Aber vielleicht… war es ein wenig zu viel Erfahrung.
Jakes Gedanken verloren sich immer mehr in der Vergangenheit. Er
erzählte endlose und langweilige Geschichten von Begebenheiten
aus einer Kindheit, die Alex sich nicht einmal vorstellen konnte:
überfüllte Städte, biologische Waffen, grandiose
Konzerte, Autos und Züge, Atemmasken, CO2-Warnungen, hungrig ins
Bett gehen müssen… Alex hatte noch nie jemanden kennen
gelernt, der unfreiwillig hungrig blieb, in ihrem ganzen Leben nicht.
Jakes Erinnerungen waren für die Gegenwart so unbedeutend
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