Crossfire 2: Feuerprobe
Angenehmes zu empfinden. Aber sie konnte nichts dagegen tun.
Sie wollte nichts dagegen tun.
Trotzdem – zuerst Michael Lin.
Jake schlief auf dem schmalen Bett in Alex’ Wohnung und
träumte.
Im Traum lag er wach, im Schlafzimmer seiner Kindheit, und sein
Bruder Donnie schnarchte leise an seiner Seite. Die weißen
Vorhänge, die seine Mutter so sorgsam vor den verdreckten
Fenstern drapiert hatte, bauschten sich sanft in der Nachtluft und
folgten dabei Donnies Atemzügen: ein, aus, ein, aus…
In dem Zimmer war es nie ganz dunkel, obwohl der Blick durchs
Fenster direkt auf die Ziegelwand eines halb zerstörten
Nebengebäudes fiel. Im Zwielicht ballten sich überall im
Raum graue, klumpige Haufen: Donnies Kleidung, die er achtlos auf den
Boden geworfen hatte. Und da war auch der Stuhl mit der
beschädigten leiste in der Rückenlehne. Die Vorhänge,
die ins Zimmer wehten, schienen weiß zu schimmern von den
Lichtern der Großstadt jenseits des offenen Fensters.
Jake beobachtete sie: ein, aus, ein, aus. Es waren Donnies
Atemzüge, es waren seine eigenen, es war seine Mutter, die im
Nebenraum das Kind zur Welt brachte, das sie umbringen würde.
Ein, aus – so bauschten sich die Vorhänge. Ein, aus, ein,
aus…
Jemand bewegte sich im Zimmer.
»Cal?« Jakes Stimme zitterte. Cal Johnson war seit
kurzem sein Pfleger, ein klobiger, sanftmütiger junger Mann, der
– wie Jake plötzlich einfiel – heute Nacht ausgegangen
war. Cal hatte eine Romanze angefangen, mit einem hübschen
chinesischen Mädchen, dem er im Park begegnet war.
»Hier ist nicht Cal«, sagte eine Frauenstimme.
»Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mr Holman. Ihnen wird nichts
geschehen. Niemand wird Ihnen etwas antun. Aber Sie müssen sich
still verhalten und mit uns kommen. Bitte machen Sie uns keine
Schwierigkeiten.«
In der verfluchten Finsternis auf Greentrees konnte er
überhaupt nichts sehen. Das war nicht die aufgewühlte und
stets erleuchtete Großstadt, hier gab es keine grauen
Schattenrisse von Stühlen, keine weißen Vorhänge, die
sich im Wind bauschten, ein, aus, ein…
Behutsam zog man Klebestreifen über Jakes Mund und über
seine Augen. Er spürte weitere Bewegungen in der Dunkelheit und
wie er von kräftigen Armen angehoben wurde. Cal!, dachte
er in einer plötzlichen Hoffnung, aber er wusste, dass es nicht
Cal war. Jake versuchte sich zu wehren, aber seine schwächlichen
Bemühungen waren ihm selbst so peinlich, dass er sie einstellte.
Gott, wie er es hasste, so alt zu sein!
Er wurde nach draußen getragen. Er merkte es an der
duftenden Nachtluft, die ihn plötzlich umgab. Dann setzte man
ihn in einen Geländewagen. Diese Wagen waren doch offen, also
würde ganz gewiss jemand sehen… Er wurde sanft nach unten
gedrückt, bis er auf dem Boden des Fahrzeugs lag. Er fing an zu
zählen und versuchte abzuschätzen, wie lange die Fahrt
dauerte und wie schnell der Wagen fuhr.
Das alles erwies sich als überflüssig, denn nachdem man
ihn wieder in ein Gebäude getragen und ihm die Klebestreifen
abgezogen hatte, wusste er sofort, wo er sich befand. Man hatte Jake
in einen alten Lehnstuhl gesetzt, der mit Decken gepolstert war.
Entlang der Wände des lang gezogenen, schmalen Raumes standen
Feldbetten neben ordentlich gestapelten, fest versiegelten
Plastikbehältern mit Vorräten und medizinischer
Ausrüstung. Er befand sich in jener Höhle, die seine
Sammelstelle im Falle einer Evakuierung war.
»Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten der
Reise«, hörte er wieder die Frauenstimme. Jake versuchte,
mehr zu erkennen. Er sah eine zierliche Gestalt, von einer einzelnen
Taschenlampe in unheimliches Licht getaucht.
»Ich kenne dich. Du bist Star Chu, die Enkelin von Zong-ming
Chu!«
»Ja. Ich leite die Chu Corporation.«
Eine der wenigen florierenden Firmen, die von Chinesen geleitet
wurden, so hatte Alex ihm einmal erklärt. Das Unternehmen war
fest in den Händen der jüngeren Generation und machte seine
Geschäfte mit neu hergestellten Luxusartikeln, mit Alkohol,
Feuerwerk, Parfüm, Kerzen und Seife. Alex hatte voller
Bewunderung über Star Chu gesprochen.
Jake musterte sie genauer. Sie war in den Zwanzigern, schlank und
sehr hübsch. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten, und sie
hatte Lippenstift aufgetragen. Bekleidet war sie mit einem
nüchternen Threadmore-Overall, aber an ihrem Handgelenk trug sie
einen Armreif mit schimmernden grünen Steinen und auf der Wange
eine kleine Tätowierung im Stil der Cheyenne.
»Warum
Weitere Kostenlose Bücher