Cruzifixus
„Wampus“ im Schilde - aber was? Je länger Simon über die „unerwartete Fügung“, die „zufällige Koinzidenz“ ihres Zusammentreffens auf der Maifeier nachdachte, desto verdächtiger kam ihm das neu erwachte Interesse Dirrigls an seinem „alten Schulfreund“ vor. Wieso hatte er sich nicht schon längst bei ihm gemeldet, um „über die alten Zeiten zu quatschen“? Wieso tauchte er einfach so aus heiterem Himmel im Bierzelt auf? Sein Blick verlor sich im tiefen Blau des Horizonts. Das Licht war hart, grell, fast von feinstofflicher Textur. Seine Pupillen verengten sich zu schwarzen Stecknadelköpfen. Um etwas erkennen zu können, wölbte er seine Hand schützend über die Augen. Über den lichten Höhen kreiste ein Raubvogel. Seine Flügel spreizten sich in den starken, thermischen Aufwinden. Wonach hielt er Ausschau? Nach einem vorwitzigen Lämmchen, nach einem lahmenden Rehkitz, nach einem tierischen oder menschlichen Kadaver? Simon wurde das ungute Gefühl nicht los, dass dort oben zwischen den Felsblöcken ein Toter lag, der mit erloschenen Augen ins Leere starrte. Es lief ihm eiskalt den Buckel hinab, als er sich der orakelhaften Worte seines Opas erinnerte:
„Der Todesengel naht auf leisen Schwingen.“
Der Messing-Messias am Sonnenberg glänzte ihm golden entgegen. Das Ende der Kletterpartie war in Sicht. Erleichtert streifte er den Rucksack von den wund gescheuerten Schultern und ließ sich auf den weichen Moosmatten zu Füßen des Heilands nieder. Fünf Minuten später sank Dirrigl neben ihm zu Boden. Vor Erschöpfung keuchend würgte er hervor:
„Wie heißt es bei Basilius: der Weg in den Himmel ist steinig!“
Simon erwiderte mit der Weisheit eines zweiten Salomos:
„Abwärts geht’s immer schneller als aufwärts.“
Dirrigl blinzelte, als ob er Mühe hatte seinen Blick zu schärfen:
„Wie lange kennen wir uns Simon? Fünfundzwanzig Jahre? Ich habe immer große Stücke auf dich gehalten! Du hast das Talent, du hast das Zeug zum Essayisten, was sage ich zum Romancier!“
Der weiche, nostalgisch gefärbte Ton seiner Stimme wich einer schneidenden, stählernen Härte:
„Warum wirfst du Perlen vor die Säue? Hier vergeudest du doch nur dein Talent. Mit einem kleinen Startkapital und ein wenig Glück könntest du es bis ganz nach oben schaffen!“
Seine Stimmlage veränderte sich erneut, klang jetzt fast wie die eines Anklägers vor Gericht:
„Was versprichst du dir von einem Interview mit dem verrückten Alten? Der tickt doch nicht mehr richtig! In seiner krankhaft, pathologischen Paranoia sieht er überall Dämonen, Gespenster und Dunkelmänner am Werk. Mit seinen wirren, abstrusen Ideen macht er nur die Leute kopfscheu. Du solltest es dir genau überlegen, ehe du so jemandem eine Plattform gibst.“
Hatte er sich verhört? Bot ihm Dirrigl unter der Hand einen Deal an: Falls er den Fall fallen ließ, würde sich die Kirche erkenntlich zeigen. Eine solche Gelegenheit, mehr über die Hintergründe zu erfahren, durfte er sich nicht durch die Lappen gehen lassen. Zum Schein ging er auf das Angebot ein:
„Ich habe den Alten immer als einen grundanständigen, integeren Mann erlebt, der zur Versöhnung aufruft und sich im Geist der tätigen Nächstenliebe um die Armen kümmert.“
Dirrigl presste seine Lippen fest aufeinander, bis die Luft zischend entwich:
„Alles nur Show! Der Alte ist ein Hetzer, ein Hassprediger, der einigen unbedarften Traumtänzern Flöhe ins Ohr setzt und ihnen weiß macht, dass Sie von Jesus auserwählt seien, um das Evangelium zu predigen, den Dämon der Habsucht auszutreiben und den falschen, vom Antichristen bestochenen Priestern die Midasmaske herunterzureißen. Vorgestern hat mich der Erzbischof entrüstet angerufen, um mir mitzuteilen, dass auf seinem privaten Handy obszöne Drohbotschaften landen. Abt Placidus hat ein anonymes Schreiben erhalten, in dem der Erpresser eine sechsstellige Summe verlangt, ansonsten würde er publik machen, dass er einer Bande pädophiler Mönche Unterschlupf gewährt. Ich will unter allen Umständen vermeiden, dass jemand diese völlig haltlosen Unterstellungen zum Vorwand nimmt, um diesen
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