Cruzifixus
eine Verschwörung ungeahnter Ausmaße. Ein fanatischer SS-Trupp paktiert mit einer fundamentalistischen Bruderschaft vom Wahren Kreuz, um eine unterm Tempelberg versteckte Höllenmaschine Gottes zu finden.“
Was war nur mit Rainfried los? Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Zigarre nicht aus Tabak- sondern aus Kokablättern gerollt war. Der selbst ernannte Verlagsmogul war jedenfalls nicht zu bremsen:
„Die Nazi-Brüder greifen nach der ultimativen Messias-Formel, die Macht über Leben und Tod verspricht!“
Simon drehte das leere Schnapsglas in seiner Hand:
„Um was sonst, wenn nicht die Weltherrschaft?“
Er hatte das Gefühl, an der Nase herum in die Irre geführt zu werden. Rainfried war ein Chamäleon, der seine Ansichten und Überzeugungen mit dem Stand der Sonne änderte. Mit dem nötigen Kleingeld im Hinterhalt, konnte er es sich leisten mit dem Image des Kreativen zu kokettieren:
„Einer ist keiner! Ums Eck ist eine kleine Osteria: an den Wänden Lithographien von Verdi und Stiche vom Petersplatz und vom Kolosseum. Die Ober wieseln in goldbetressten Schwalbenschwanzjäckchen herum! Und die Küche – ein Gedicht!”
Die Namen von Antipasti, von Pastavariationen und Spezialitäten aus Topf und Tiegel zergingen ihm wie natives Olivenöl auf der Zunge:
“Cacciucco di pollo, Ossobuco con funghi porcini, Carciofi ripieni, Buglione, Scialatielli con melanzane e mozzarella. Der Laden heißt Piccola Italia. Komm, ich lad dich ein!“
Wieso sollte er die Einladung ausschlagen? Warum sollte er aus seinem Magen eine Mördergrube machen? Er reckte und streckte seinen von der Feuilletonfron gekrümmten Rücken und ließ Heine, den alten Heiden, für ihn sprechen:
„Lass die heiligen Parabolen, lass die frommen Hypothesen – suche die verdammten Fragen ohne Umschweife zu lösen!“
Der Codex des Christus
Ut sementem feceris, ita metes! Wer Wind sät, wird Sturm ernten!
Alles hatte seine Zeit. Es gab Zeiten der Flaute, windige wie stürmische Zeiten. Simon jedoch sah ein Gewitter heraufziehen, ein Gewitter mit heftigen, orkanartigen Böen, die tiefe Schneisen in die Reihen schlagen, Menschen gleich Bäumen entwurzeln würden. Er war an einem Scheideweg angekommen. Ein janusköpfiger Zwitter, der seine Blicke nach vorne wie nach hinten richtete. Dessen Gesicht sich im selben Augenblick der Morgenröte wie der Abenddämmerung zuwandte.
„Dilegua, o notte! Tramontate, stelle! All'alba vincerò! Vincerò! Vincerò!!“
Simon lauschte der sich in atemberaubende Höhen schraubenden Stimme des Belcanto-Tenors. Nessun Dorma! Niemand schlafe! Ein wehmütiger, ahnungsschwerer Ton schwang in dieser gewaltigen, von der ewigen Sehnsucht nach Erfüllung getragenen Arie des fremden Prinzen. Bestand noch Hoffnung für ihn? Eine geringe, wenn auch trügerische Aussicht auf Erfolg, auf den großen Wurf? Unterm Strich hatte er Nichts erreicht. Der Bestseller war in weite Ferne gerückt! Er war schon an der ersten Hürde gescheitert. Rainfried hatte in der Osteria zwar den großen Max herausgekehrt, eine Flasche Brunello und zwei Stamperl Grappa spendiert. Jesus, Hitler oder den Berghof-Mythos hatte er jedoch mit keiner Silbe mehr erwähnt. Vor der Tür hatte er ihn mit dem Überschwang eines russischen Landadeligen umarmt, der sich von seinem in die Schlacht ziehenden Kameraden verabschiedet:
„Mon ami, adieu! Hau rein. Wir sehen uns!“
Links und rechts der Autobahn glitzerten die Lichterketten und Glühlichtgirlanden der Konsumtempel und Shoppingsynagogen, die wie gewaltige Neontentakel durch die Tintenschwärze einer mondlosen Nacht peitschten. Er wechselte die CD: Mozartissimo. Auf dem Asphaltband kroch ein endlos langer, wie ein Lampion von innen heraus leuchtender Lindwurm, wand sich um Hügel und ringelte sich durch die weite Moorlandschaft der Aininger Filze. Er war Teil jenes Lindwurms, schnaubte mit Tempo 120 den Hügel hinab. Wie auf Engelsflügeln glitt er über den rötlich schimmernden Asphalt. Simon fühlte wie ihn ein mächtiger Strom, ein gewaltiger Sog mit sich riss. Sein Wagen beschleunigte, wurde schneller und schneller. Es konnte sich nur noch um Sekunden
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