Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Bier.«
»Als Sie hereinkamen, hat Ihr Atem nach Alkohol gerochen, überlagert von Atemfrisch, Geschmacksrichtung Wintergrün.« Er lächelte, als wäre er bloß neugierig. Bei Verhören strahlte er vermutlich übers ganze Gesicht.
»Pfefferminz ja, Alkohol nein.«
In Wirklichkeit war ich genau deshalb so spät gekommen. Denn der schnelle Drink, den ich mir nach dem Besuch bei den Keenes genehmigt hatte, musste getarnt werden. Also hatte ich mir im Supermarkt ein paar Straßen weiter Atemfrisch gekauft. Geschmacksrichtung Wintergrün.
»Nun gut, Camille«, sagte er sanft, »es geht mich auch nichts an.« Er nahm eine Gabel voll Kartoffelbrei, der rot gefärbt war vom Wackelpudding, und schwieg. Wirkte ein bisschen verlegen.
»Was möchten Sie denn über Wind Gap wissen?«
Mir war, als hätte ich ihn tief enttäuscht; ich kam mir vor wie ein Erwachsener, der seinem Kind versprochen hat, am Geburtstag mit ihm in den Zoo zu gehen, es dann aber nicht tut. In diesem Augenblick wollte ich ihm die ganze Wahrheit sagen, wollte seine nächste Frage wahrheitsgemäß beantworten, nur um es wiedergutzumachen – doch dann fragte ich mich, ob er nicht genau das beabsichtigt hatte. Smarter Bulle.
»Ich möchte etwas über das Gewaltpotential in dieser Stadt erfahren. Das äußert sich überall anders. Tritt es hier offen zutage, oder bleibt es verborgen? Geht Gewalt von Gruppen aus – Kneipenschlägereien, Vergewaltigungen durch Banden –, oder zielt sie auf ganz bestimmte Personen? Wer steckt dahinter? Wer sind die Opfer?«
»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen einen Gesamtüberblick der Gewaltdelikte von Wind Gap liefern kann.«
»Was war der erste wirklich gewalttätige Vorfall, den Sie selbst miterlebt haben?«
Meine Mutter mit dem Baby.
»Ich habe gesehen, wie eine Frau einem Kind wehgetan hat.«
»Hat sie ihm den Hintern versohlt? Es geschlagen?«
»Sie hat es gebissen.«
»Verstehe. Junge oder Mädchen?«
»Mädchen, glaube ich. Ich war noch klein, daher weiß ich es nicht mehr genau.«
»Ihr eigenes Kind?«
»Nein.«
»Also weiter. Ein sehr intimer Akt der Gewalt gegenüber einem weiblichen Kind. Wer hat ihn begangen?«
»Ich kenne den Namen der Person nicht. Es war irgendeine Verwandte, die aus einer anderen Stadt zu Besuch war.«
»Wer könnte ihren Namen wissen? Ich meine, wenn sie Bindungen nach Wind Gap hat, wäre es einen Versuch wert.«
Mir war, als würden sich meine Gliedmaßen voneinander lösen, als trieben sie dahin wie Holz auf einem öligen See. Ich drückte die Fingerspitzen gegen die Zinken meiner Gabel. Schon dass ich die Geschichte laut ausgesprochen hatte, versetzte mich in Panik. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Richard Genaueres darüber erfahren wollte.
»Ich dachte, es gehe nur um ein Profil der Stadt«, sagte ich. Meine Stimme dröhnte hohl in meinen Ohren. »Einzelheiten weiß ich nicht. Es war eine Frau, die ich nicht kannte. Zu wem sie gehörte, kann ich auch nicht sagen. Ich habe einfach angenommen, dass sie nicht aus Wind Gap stammte.«
»Ich dachte immer, Reporter stellen keine Vermutungen an.« Wieder dieses Lächeln.
»Damals war ich noch keine Reporterin, sondern nur ein Kind …«
»Camille, es tut mir leid, wenn ich Sie nerve.« Er nahm mir die Gabel weg, legte sie demonstrativ auf seine Tischhälfte, hob meine Hand und küsste sie. Ich sah, wie das Wort
Lippenstift
aus meinem rechten Ärmel kroch. »Entschuldigung, es sollte kein Verhör werden. Ich hab den bösen Bullen gespielt.«
»Es fällt mir schwer, Sie als bösen Bullen zu betrachten.«
Er grinste. »Stimmt, das passt so gar nicht zu mir. Scheiße, was muss ich auch so jungenhaft und attraktiv sein!«
Wir nippten beide an unseren Drinks. Er spielte mit dem Salzstreuer und sagte dann: »Darf ich weiterfragen?« Ich nickte. »An welche Vorfälle erinnern Sie sich sonst noch?«
Von dem intensiven Geruch des Thunfischsalats auf meinem Teller wurde mir ganz schlecht. Ich hielt nach Kathy Ausschau, brauchte noch ein Bier.
»Fünfte Klasse. Zwei Jungen bedrängten ein Mädchen während der Pause und brachten es dazu, sich einen Stock einzuführen.«
»Gegen ihren Willen?«
»Hm … irgendwie schon. Es waren Schlägertypen. Sie tat, was die von ihr verlangten.«
»Haben Sie es selbst gesehen oder nur davon gehört?«
»Ein paar von uns mussten zuschauen. Als der Lehrer es herausfand, mussten wir uns entschuldigen.«
»Bei dem Mädchen?«
»Nein, das Mädchen musste sich ebenfalls
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