Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
entschuldigen, und zwar bei der Klasse.
›Junge Damen müssen sich in der Gewalt haben, weil Jungen es nicht können.‹
«
»Gott im Himmel. Manchmal vergisst man, wie es früher zuging. Dabei ist es noch gar nicht so lange her. Wie … rückständig.« Richard machte sich Notizen und löffelte dazwischen seinen Wackelpudding. »Was fällt Ihnen sonst noch ein?«
»Einmal betrank sich eine Achtklässlerin auf einer Highschool-Party. Vier oder fünf Typen aus der Footballmannschaft hatten Sex mit ihr, reichten sie praktisch herum. Zählt das auch als Gewalt?«
»Aber natürlich zählt das, Camille. Das wissen Sie doch, oder?«
»Ich meine, ich bin mir nicht sicher, ob es einen unmittelbaren Akt der Gewalt darstellt …«
»Wenn ein Haufen Besoffener eine Dreizehnjährige vergewaltigt, würde ich das durchaus als unmittelbare Gewalt bezeichnen.«
»Seid ihr zufrieden?« Kathy stand lächelnd neben uns.
»Könntest du mir noch ein Bier besorgen?«
»Zwei«, warf Richard ein.
»Na gut, Richard zuliebe, er gibt nämlich das beste Trinkgeld von allen.«
»Danke, Kathy«, sagte er lächelnd.
Ich beugte mich vor. »Richard, ich bestreite nicht, dass es Unrecht war. Ich möchte nur verstehen, wie Sie die Kriterien für Gewalt definieren.«
»Eben weil Sie mich fragen, ob dieser Vorfall zählt, liefern Sie mir ein sehr genaues Bild von ebenjener Gewalt, mit der wir es hier in der Stadt zu tun haben. Wurde die Polizei verständigt?«
»Natürlich nicht.«
»Eigentlich ist es erstaunlich, dass sie sich nicht dafür entschuldigen musste, dass sie den Jungs erlaubt hatte, sie zu vergewaltigen. Fünfte Klasse. Zum Kotzen.« Wieder wollte er meine Hand nehmen, doch ich verbarg sie im Schoß.
»Also hängt es vom Alter ab, ob es eine Vergewaltigung gewesen ist oder nicht.«
»Eine Vergewaltigung wäre es in jedem Alter gewesen.«
»Angenommen, ich betrinke mich heute Abend, verliere den Kopf und habe Sex mit vier Männern: Würde das als Vergewaltigung gelten?«
»Vom rechtlichen Standpunkt her schwierig zu entscheiden. Es hängt von mehreren Faktoren ab. Ihrem Anwalt beispielsweise. Aber ethisch gesehen würde es selbstverständlich als Vergewaltigung gelten.«
»Sie sind ein Sexist.«
»Wie bitte?«
»Ein Sexist. Ich habe es satt, wenn linksliberale Männer unter dem Deckmäntelchen ›Kampf gegen sexuelle Diskriminierung‹ Frauen auf ihre Weise sexuell diskriminieren.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich nichts dergleichen tue.«
»Bei mir im Büro gibt es so einen empfindsamen Typen. Als ich bei einer Beförderung übergangen wurde, schlug er mir vor, auf Diskriminierung zu klagen. Dabei war ich gar nicht als Frau diskriminiert worden, ich war einfach eine durchschnittliche Reporterin. Und es soll vorkommen, dass betrunkene Frauen nicht vergewaltigt werden, sondern lediglich blöde Entscheidungen treffen. Daraus zu folgern, dass betrunkene Frauen per se vergewaltigt werden, zieht die Schlussfolgerung nach sich, dass wir
behütet
werden müssen. Das finde ich beleidigend.«
Kathy kam mit unserem Bier, und wir tranken die Flaschen schweigend aus.
»Herrgott, Preaker, ich geb’s auf.«
»Gut.«
»Aber Sie erkennen ein Muster, nicht wahr? In den Übergriffen auf Frauen. In der Haltung in Bezug auf die Übergriffe.«
»Nur wurden weder Ann noch Natalie sexuell missbraucht. Stimmt doch, oder?«
»Ich glaube, für unseren Burschen kommt das Zähneziehen einer Vergewaltigung gleich. Ihm geht es vor allem um Macht – die Handlung ist mit einem Eindringen verbunden, verlangt beträchtliche Gewaltanwendung und verschafft ihm Erleichterung, sobald sich ein Zahn löst.«
»Ist das jetzt offiziell?«
»Sollte ich das in Ihrer Zeitung lesen oder auch nur den geringsten Hinweis auf dieses Gespräch in einem Artikel mit Ihrem Namen entdecken, rede ich nie wieder mit Ihnen. Und das wäre wirklich schlimm, weil ich gern mit Ihnen rede. Prost.« Er stieß mit seiner leeren Flasche gegen meine. Ich schwieg.
»Ich würde gern mal so richtig mit Ihnen ausgehen«, sagte er. »Nur zum Spaß. Ohne Fachsimpelei. Mein Hirn braucht dringend Abwechslung. Wir könnten irgendwas Nettes machen, was typisch ist für eine Kleinstadt.«
Ich hob fragend die Augenbrauen.
»Karamellbonbons machen. Ein geöltes Schwein einfangen.« Er zählte die Aktivitäten an den Fingern ab. »Selber Eis machen. In einer Seifenkiste die Main Street runterrasen. Ach ja, vielleicht findet auch ein Jahrmarkt statt – ich könnte für Sie
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