Cry - Meine Rache Ist Dein Tod
in seiner Macht stand, hatte sie allein großgezogen und dabei ihre Bedürfnisse immer über seine eigenen gestellt. Na ja, fast immer. Als sie damals vor einigen Jahren aus L.A. hierher zogen, war sie nicht besonders glücklich darüber gewesen, doch mit der Zeit hatte sie sich eingelebt. Inzwischen liebte sie diese Stadt und konnte sich nicht vorstellen, wieder nach Kalifornien zu ziehen.
Sie schlenderte über den Gehsteig und den Damm hinauf. Der Fluss, breit und dunkel, strömte träge dahin. In der einen Richtung sah sie einen alten Raddampfer an der Toulouse Street Wharf andocken, während Schleppkähne einen großen Frachter durch die Fahrrinne zogen. Die Sonne brannte auf Kristis Kopf herab und glitzerte auf dem Wasser. Am Horizont türmten sich weiße Wolken, die stetig näher kamen. Ja, es gefiel ihr hier, doch sie verwarf den Gedanken, den Rest des Tages mit Faulenzen zu verbringen. Die Haie und die einarmigen Banditen konnten warten. Wenn sie wirklich Krimiautorin werden wollte, musste sie sich an die Arbeit machen, die laufenden Ermittlungen verfolgen.
Sie zückte ihr Handy und tippte die Kurzwahlnummer ihres Kontakts auf dem Revier ein.
Heute, sagte sie sich, drehte sie den Spieß einmal um.
Sie würde dem guten alten Dad auf die Finger sehen, nicht umgekehrt.
Eve verlor keine Zeit. Eine Stunde war vergangen, seit sie ihren Schlafsack zusammengerollt hatte, und in dieser Zeit hatte sie bereits die Pappschachtel voller Sand entsorgt, die sie im Bad als behelfsmäßiges Katzenklo aufgestellt hatte, einen Schlosser angerufen und einen Termin zum Auswechseln der Schlösser vereinbart. Sie hatte sogar eine Reinigungsfirma gefunden, die die Spuren des Eindringlings beseitigen würde, auch wenn sie beabsichtigte, ihr Zimmer und alles, was der Dreckskerl angefasst hatte, zusätzlich selbst mit Desinfektionsmittel zu schrubben.
In der vergangenen Nacht war sie irgendwann gegen zwei Uhr eingeschlafen. Cole war noch wach gewesen, mit seinen Notizen beschäftigt, hatte sich mit ihrem Laptop über den schnurlosen Internetanschluss bei irgendeinem Nachbarn mit ungesichertem Access Point eingeloggt. Solange sie wach war, hatte er lebhaft auf sie eingeredet, Theorien über das Wer und Warum in diesem Fall aufgestellt und darüber, wie sie die Angelegenheit aufklären könnten. Eve hatte die ganze Zeit über innerlich gekocht. Wie hatte sie so dumm sein können, ihm noch einmal zu vertrauen? Hätte sie es nicht besser wissen müssen?
Dieser verlogene Drecksack!
Wäre Samson nicht gewesen, hätte sie sich ein Hotelzimmer genommen.
Das versuchte sie sich zumindest einzureden.
Sie war hin- und hergerissen, das war das Problem. Rasend wütend und vollkommen verunsichert!
Er hatte sie aufgefordert, über die vergangenen paar Tage nachzudenken; seitdem dachte sie kaum noch an etwas anderes. Sicher, Cole war wild entschlossen, herauszufinden, wer hinter den Morden steckte; er hatte für sie Kopf und Kragen riskiert; er war der Fels in der Brandung gewesen, als sie dem Zusammenbruch nahe war – doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er ein Lügner war und letztendlich doch nur die eigene Haut retten wollte.
Er hat gesagt, dass er dich liebt, und das war, bevor er gestand, dass er in der Hütte war.
Na und?
Lippenbekenntnisse.
Es hatte allerdings den Anschein gehabt, als wolle er sie beschützen, für sie sorgen, sie lieben …
Sie biss die Zähne zusammen und stöhnte leise vor Hilflosigkeit.
Hat er seit seiner Haftentlassung irgendetwas getan, was ihn in deinen Augen als nicht vertrauenswürdig erscheinen lässt?
Ja! Er war nicht von Anfang an offen zu ihr gewesen. Er hatte sie nach Strich und Faden belogen! Erst als ihre Erinnerungen zurückkehrten und sie selbst anfing, die Nacht, in der Roy umgebracht wurde, zu rekonstruieren, hatte er schließlich aufgegeben und die Wahrheit gesagt.
Sie durfte ihm nicht trauen!
Schlimmer noch, sie konnte sich
selbst
nicht trauen, wenn er bei ihr war. Sie war sogar an ihn gekuschelt aufgewacht. Zwar vollständig angezogen, aber eingelullt in seiner Wärme, seiner Nähe, seinem Duft. Hastig war sie von ihm abgerückt und hatte nach ihrem Handy gesucht. Während Cole – der Teufel sollte ihn holen – auf dem geöffneten Schlafsack lag und schlief, das dunkle Haar in der Stirn, die Lippen leicht geöffnet, der kräftige Körper völlig entspannt, hatte sie ihre Anrufe getätigt. Sie musste ihr Leben wieder in die Hand nehmen, ihr Haus reinigen und
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