Cryer's Cross
Reihenfolge.
»Okay. Das war’s. Lass den Motor eine Weile laufen.« Er rollt die Kabel ein und legt sie wieder in die Werkzeugkiste. »Vielleicht fährst du sogar eine Runde damit.«
»Ich darf nicht, das weißt du doch.«
»Stimmt«, erwidert er. »Hatte ich schon vergessen. Muss echt ätzend sein.«
Kendall lässt den Motor laufen, als sie aus dem Pick-up aussteigt.
»Ja, ziemlich«, entgegnet sie. »Vielen Dank fürs Herfahren und für das mit dem Überbrückungskabel. Meine Mum wird dir sehr dankbar sein. Wir … wir sehen uns dann morgen.«
Er steigt ein, schließt die Tür und legt den Ellbogen auf den Fensterrahmen.
»Wenn du morgen nach der Schule zu uns kommen willst, bring deine Fußballsachen mit.«
Er legt den Gang ein. Kendall spürt, wie sie rot wird.
»Vielleicht«, meint sie leichthin, doch dann fällt ihr ein: »He, als du geduscht hast, hat deine Freundin angerufen. Marlena hat vergessen, es dir zu sagen.«
Jaciáns Gesichtsausdruck verändert sich nicht.
»Oh, gut«, sagt er. »Danke.« Dann zieht er den Arm weg, setzt zurück und wendet. Ohne ein weiteres Wort fährt er davon.
Wir
So dicht davor. Wir spüren die Wärme, aber Wir können sie nicht erreichen. Wollen. Brauchen. Fünfunddreißig, einhundert. Fünfunddreißig, einhundert. Wir schreien danach, berührt zu werden, mit Furcht in Unseren kratzigen Stimmen. Fünfzig kalte Jahre in der Dunkelheit, in kochendem Leiden. Komm näher! Wir wollen dich noch mehr als den letzten. Qualvoll.
Bitte.
Rette mich.
14
Er kommt früh.
Kendall ist fertig und sitzt vor dem Panoramafenster. Sie denkt an Nico und wünscht sich so sehr, dass er bei ihr ist, dass ihr fast das Herz bricht. Sie wünscht sich, sie könnte mit ihm reden. Als sie die Staubwolke am Ende der Auffahrt sieht, glaubt sie erst, dass er es ist, doch die Realität holt sie schnell und schmerzhaft wieder ein.
Bei Jaciáns Ankunft hat sie bereits ihre Mutter zum Abschied geküsst und wartet draußen. Sie springt in den Pick-up. Eigentlich möchte sie ihm dafür danken, dass er früher gekommen ist, doch plötzlich ist es ihr peinlich, das Thema wieder anzuschneiden. Kurz fragt sie sich, warum sie sich von ihm so durcheinanderbringen lässt. Er ist einfach so … undurchschaubar.
Vor der Schule begegnet sie dem alten Mr Greenwood, und schnell läuft sie hinein, um so viele Dinge wie möglich zu richten, bevor Jacián sie einholt. Sie schafft den Papierkorb, die Kreide, die Fensterriegel und die Vorhänge, bevor sie ihn kommen hört. Dann stellt sie nacheinander die Tische gerade. Erleichtert streicht sie über jeden einzelnen und liest die eingeritzten Worte, als seien sie Beruhigungsmittel. Es ist ihr sogar egal, dass er sie dabei anstarrt.
Als sie zum Block der Zwölftklässler kommt, sitzt Jacián bereits an seinem Pult und liest. Sein Tisch steht leicht schief, nicht so sehr, dass es einem normalen Menschen auffallen würde, aber für Kendall ist es wie eine Musiknote, die permanent falsch klingt. Sie ist kurz davor, ihn zu bitten, beiseitezugehen, aber sie weiß, wie merkwürdig das für ihn aussehen muss. Ihr ist klar, dass Menschen ohne Zwangsstörungen sie nicht verstehen können. Das ist für sie auch in Ordnung. Trotzdem. Sie wird warten, bis er aufsteht. Sie macht mit den anderen Pulten weiter – Elis, Travis’ Brandons … doch den Anblick von Nicos Platz erträgt sie noch nicht. Als sie Jaciáns Tisch ansieht, ärgert es sie mehr als üblich, dass er schief steht. Doch die ersten Schüler kommen bereits herein.
Wortlos, und ohne sein Buch wegzulegen, steht Jacián auf und geht ihr aus dem Weg.
»Bitte sehr«, sagt er.
Sie sieht ihn überrascht an, aber das bemerkt er nicht. Zögernd und mit fest aufeinandergepressten Lippen diskutiert sie stumm mit sich selbst. Sie richtet schnell seinen Tisch aus, sodass er perfekt in der Reihe steht. Anschließend lässt sie sich auf ihren eigenen Platz fallen, holt tief Luft und stößt sie langsam wieder aus.
»Danke«, sagt sie leise.
Sein Mund zuckt, aber er liest weiter.
Sie wendet sich Nicos Pult zu. Heute ist sie besser darauf vorbereitet, dass er nicht da ist. Es ist immer noch schrecklich. Sie rückt den Tisch ganz leicht und liebevoll gerade, sodass er in einer Linie mit ihrem steht. Vorsichtig streicht sie mit dem Finger darüber. Sie hebt den Deckel und sieht hinein, doch es ist nichts mehr darin. Er ist so kalt und nackt. Leer. Sie liest die eingeritzten Worte, doch ohne ihn scheinen sie etwas ganz
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