Cryer's Cross
können, ist das schrecklichste Gefühl der Welt. Wenigstens ist Jacián auch gestürzt.
Sie rollt sich auf die Seite, und sie liegen keuchend nebeneinander im Gras.
Als sie wieder sprechen kann, stellt Kendall fest: »Du bist scheiße.«
Jacián grinst in den Himmel.
Später geht Kendall zu Hector und Marlena auf die Veranda. Sie sitzt auf der Treppe und trinkt ein riesiges Glas Wasser, während sie ihnen zuhört.
»Fährst du heute in die Stadt, um den alten Mr Greenwood zu besuchen?«, will Marlena wissen.
»Nicht heute. Ich muss mich um einigen Papierkram kümmern.«
»Was sagt er denn dazu, wenn du nicht auftauchst?«
»Ach, das ist schon in Ordnung. Es ist schließlich nicht das erste Mal. Manchmal kommt er auch nicht. Wir sind schon seit Langem gut miteinander befreundet und verstehen uns.«
Kendall dreht sich um.
»Ich finde das süß, dass ihr immer nur zusammensitzt und nie miteinander sprecht, wie ein altes Ehepaar.«
»Ha! Manchmal unterhalten wir uns schon. Ich wusste nicht, dass die ganze Stadt über uns redet.« Er grinst.
»Ich glaube, ich habe den alten Mr Greenwood noch nie mehr als ein paar Worte sagen hören, nur, wenn er uns in der Schule anbrüllt, dass wir aufräumen sollen oder so«, bemerkt Kendall. »Er ist ein wenig griesgrämig. Wie lange kennen Sie ihn denn schon? War er immer so?«
Hector schüttelt den Kopf. »Wir kennen uns schon ewig. Seit wir etwa in eurem Alter waren … vielleicht sogar ein paar Jahre jünger.« Seine Augen bekommen einen seltsamen Glanz.
»Habt ihr euch hier kennengelernt, Grandpa? Hast du schon immer hier gewohnt?«, fragt Marlena.
»Wir haben uns hier in Montana kennengelernt, ja.« Er wendet sich Kendall zu und erklärt: »Ich wurde in Texas geboren, und meine Eltern haben nur Spanisch gesprochen, daher habe ich erst Englisch gelernt, als ich in die Schule gekommen bin. Sie waren gute Feldarbeiter, und als ich vierzehn war, sind wir eines Sommers hierhergekommen. Ich war …« Er macht eine Pause. »Ich war kein guter Junge. Ich hatte hier eine Menge Probleme mit den anderen Kindern.«
»Warum?«, will Marlena wissen.
»Weil … Nun, teilweise, weil ich Mexikaner bin. Hier in Montana gab es nur Indianer und Weiße, aber nicht sehr viele Mexikaner.«
»Was ist passiert?« Kendall dreht sich auf der Treppe um, damit sie sein Gesicht sehen kann.
»Ich habe mich geprügelt. Und meine Eltern konnten das nicht zulassen. Sie mussten jeden Tag lange und hart arbeiten, und ich benahm mich schlecht. Daher haben sie mir einen anderen Platz gesucht, wo ich wohnen sollte.«
Marlena blieb der Mund offen stehen. »Du meinst, bei einer anderen Familie? Bei den Greenwoods? Seid ihr so Freunde geworden?«
»Oh nein, nichts dergleichen.« Hector sieht auf seine Uhr. »Meine Güte, ich muss los. Ich muss für Jacián schnell noch ein paar Rechnungen zusammenstellen. Er muss heute einige Lieferungen machen. Kendall, sollen wir dich nach Hause bringen?« Langsam steht er auf.
»Meine Mutter holt mich um sechs ab, wenn es okay ist.«
»Seid ihr nicht dabei, die ganzen leckeren Kartoffeln zu ernten? Es scheint die richtige Zeit dafür zu sein.«
»Ja.« Kendall nickt schuldbewusst. »Meine Eltern haben mir sozusagen freigegeben wegen Nico. Sie finden, es sei gut, wenn ich mehr Zeit damit verbringe, mit meinen Freunden zu sprechen. Was auch immer das heißen mag.«
»Das heißt, dass du nicht allein auf einem Traktor sitzt und vor dich hin brütest«, erklärt Hector.
»Wie auch immer, es ist praktisch der erste September, den ich von der Ernte befreit bin, seit ich laufen kann«, erzählt Kendall. »Trotzdem … ich hätte lieber Nico wieder.«
»Es ist sehr schwer für einen so jungen Menschen, einen Freund zu verlieren. Ich habe das auch durchgemacht«, sagt Hector. Er schüttelt den Kopf und geht ins Haus. »Sei vorsichtig da draußen, Kendall. Es würde mich krank machen, wenn dir auch noch etwas zustoßen würde, oder irgendjemandem sonst.«
Als Kendalls Mutter sie abholt, reicht sie ihrer Tochter – einen Brief.
»Von der Juilliard«, sagt sie.
Kendall starrt den Brief an, und ihr Magen verkrampft sich. Sie nimmt ihn in die Hände und ist sich nicht sicher, wie sie sich fühlen soll. Kurzentschlossen reißt sie den Umschlag auf, nimmt das gefaltete Blatt heraus und klappt es auf.
Einen Augenblick lang liest sie mit angehaltenem Atem, dann überfliegt sie den Rest des Briefes und lässt ihn in den Schoß fallen.
»Es ist eine Absage.«
Kendall
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