Cryer's Cross
dich?« Sie wendet das Gesicht zum Fenster, damit er nicht das Grinsen sieht, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitet. Sie ist froh, dass er normal damit umgeht.
Seufzend fährt er vom Schulparkplatz.
»Kommst du mit zu uns nach Hause?«
»Ja.«
»Hör mal, ich weiß Bescheid über Zwangsstörungen. Bevor wir hierhergekommen sind, war ich zwei Sommer lang Vertrauensschüler in einem Fußballcamp. Es gab eine Menge Leute mit Geheimnissen. Du bist nicht die Einzige auf der Welt damit.«
Kendall schnauft. »Manchmal habe ich aber das Gefühl.«
»Oh, du Arme.«
»Halt die Klappe!«
Er zuckt mit den Achseln.
Sie erreichen Hectors Ranch, parken den Pick-up und steigen aus. Jacián nimmt die Fußbälle.
»Hast du deine Sachen mitgebracht?«
Kendall überlegt. Sie hat sie dabei, aber die Wendung, die ihr Gespräch eben genommen hat, gefällt ihr gar nicht. Doch sie fühlt sich ausgelaugt, und ihr Kopf braucht dringend eine Pause.
»Ja.«
Sie gehen die Verandatreppe hinauf und ins Haus.
»Oben ist ein Badezimmer«, sagt Jacián. »Du kannst aber auch in Marlenas Zimmer gehen. Sie benutzt es sowieso nicht, solange sie nicht hinaufgehen kann.«
Kendall sieht Marlena mit geschlossenen Augen auf dem Sofa liegen. Leise geht sie nach oben und zieht sich um, dann schleicht sie auf Zehenspitzen wieder hinaus, um ihre Freundin nicht zu wecken. Jacián folgt ihr eine Minute später. Schweigend machen sie ihre Dehnübungen. Kendall spürt das Ziehen in ihrem Rücken und den Oberschenkeln und tadelt sich selbst, dass sie in der letzten Zeit überhaupt nicht getanzt hat. Aber wenn der beste Freund deines Lebens auf einmal verschwindet, vergisst man manchmal vielleicht sogar das Tanzen. Sie geht in den Spagat und beugt sich über ihr rechtes Knie.
»Hilft dir der Sport?«
Kendall ist abgelenkt. »Bei was?«
»Deiner Zwangsneurose.«
»Ja.«
»Das habe ich mir gedacht. Die Kinder, mit denen ich gearbeitet habe – sie schienen immer so viel … ich weiß nicht … zufriedener, ruhiger, wenn sie den ganzen Tag lang gespielt hatten.«
Seine Art, eine Unterhaltung zu führen, erschreckt Kendall ein wenig. Sie ist skeptisch und versteht nicht, warum er auf einmal so bereitwillig redet, doch sie ist zu erschöpft, um seine Motive zu hinterfragen.
»Es hilft mir auf jeden Fall. Während des Sports, aber auch ein wenig danach.« Kendall beugt sich über das andere Knie. »Ich wünschte, ich könnte das ganze Jahr lang spielen.«
»Warum tust du es nicht?«
Kendall sieht ihn an. »Hm. Vielleicht wegen des Schnees?«
»Oh. Das habe ich vergessen.«
»Ja.«
»Und was machst du, wenn es schneit?«
Unerwartet steigt ihr ein Kloß in die Kehle, als sie daran denkt, wie sie und Nico zum Eisangeln gegangen sind, Schlittschuh laufen waren und in den Bergen Ski gefahren sind. Und wie sie getanzt hat. Ohne Nico.
»Tanzen«, sagt sie. »Theater. Bis jetzt nur einmal, aber ich will es irgendwann wieder machen.«
Sie steht auf, greift nach einem Fußball. Sie schießt ihn weit weg, um ihm nachzujagen und das Gespräch zu beenden, bevor es gefährlich wird. Sie hat keine Lust mehr, zu weinen.
Eine Zeit lang trainiert jeder für sich. Doch heute ist es wesentlich angenehmer als gestern, und schließlich beginnen sie gegeneinander zu spielen. Jacián ist größer, stärker und kann ein wenig schneller laufen, aber Kendall ist ein bisschen schneller darin, die Richtung zu wechseln. Wenn sie an ihm vorbeikommt, hat sie es geschafft.
Das Problem ist, an ihm vorbeizukommen.
Jacián spielt so grob, fast schon brutal. Das macht er immer, und er nimmt keine Rücksicht auf Mädchen – nicht auf Marlena und auch nicht auf Kendall. Das ist ihr schon am ersten Tag aufgefallen, und eigentlich gefällt ihr das. Sie versucht ihn ebenfalls zu Fall zu bringen. Sie darf nicht klein beigeben. Und wenn sie spielt, ist er der Feind. Kendalls Gedanken konzentrieren sich ganz auf ein Ziel: Gewinnen.
Sie bemerkt gar nicht, wie Marlena mit Hector zusammen aus der Tür humpelt. Sie setzen sich auf die Veranda und schauen zu, wie sich Kendall für den Siegesschuss bereit macht. Sie erreicht den Ball vor Jacián, obwohl jeder Muskel in ihrem Körper schreit und zum Zerreißen gespannt ist. Er stellt sich ihr in den Weg, und sie knallt gegen ihn. Ihr Körper prallt ab, und sie landet hart auf dem Rücken. Sie bekommt keine Luft und bleibt einen Moment lang benommen liegen, bevor sie nach Atem ringt. Der verzweifelte Versuch zu atmen, es aber nicht zu
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