Cryer's Cross
anderes zu bedeuten. Es ist immer noch Nicos Pult, aber etwas daran ist ungewöhnlich und nagt in ihrem Unterbewusstsein, ohne dass sie es ganz greifen kann.
Doch dann erkennt sie, was es ist. In der Tischplatte sind neue Worte eingeritzt, sehen aber nicht neu aus. Es scheint so, als stünden sie wie die anderen schon zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre dort. Kendall beugt sich herüber, um sie besser lesen zu können. Sie sind garantiert nicht neu. Hätte Nico sie geritzt, wären sie nicht so glatt.
Ms Hinkler beginnt den Unterricht damit, Blätter auszuteilen. Kendall sieht sich um, um sicherzugehen, dass sie sich nicht zu merkwürdig verhält, und beugt sich erneut über Nicos Tisch. Fast in der Mitte steht ohne jeden Zweifel:
Bitte.
Rette mich.
Seltsam, dass ihr das noch nie zuvor aufgefallen ist. Wie konnte sie so etwas übersehen?
Sie hört den ganzen Tag lang kein Wort von dem, was Ms Hinkler sagt. Sie kann sich nicht konzentrieren, weil sie sich über das Pult und die Worte darauf wundert. Sie betrachtet es und richtet ihre ganze Aufmerksamkeit darauf. Ihr fällt ein, dass dieser Tisch nicht schon seit jeher in diesem Klassenzimmer steht. Er ist zwar genauso alt wie die anderen, aber er hatte im Lager gestanden, bis er gebraucht wurde. Der alte Mr Greenwood hatte ihn im letzten Frühling heraufgeholt, weil ein anderer kaputt gegangen war.
Sie weiß, wer zuvor an diesem Tisch gesessen hat. Tiffany Quinn.
Und nachdem das Klassenzimmer in den Sommerferien gründlich gereinigt worden war, war es schließlich Nicos Tisch geworden.
Kendall schnappt hörbar nach Luft, laut genug, dass Jacián zu ihr hinüberschaut und fragend eine Augenbraue hebt.
Kendall sieht ihn einen Augenblick lang an, lächelt dann zögernd und winkt ab.
»Es ist nichts«, sagt sie.
Und wenn sie vernünftig darüber nachdenkt, dann ist da eigentlich auch nichts. Nichts weiter als ein merkwürdiger Zufall.
Mittags bleibt sie im Klassenzimmer und betrachtet prüfend den Tisch. Sie will sich sicher sein, auch wenn sie nicht weiß, worüber. Schließlich nimmt sie ein Blatt Papier und schreibt auf, was sie sicher weiß und was fast sicher ist.
Auf der »sicheren« Seite steht:
Tiffany Quinn und Nico Cruz haben beide an diesem Tisch gesessen, bevor sie verschwunden sind.
Auf dem fraglichen Tisch stehen neue Worte, die alt aussehen.
Den zweiten Punkt radiert sie aus und setzt ihn auf die »fast sichere« Seite.
Dann radiert sie auch den ersten Punkt aus, wobei sie in ihrer Hast das Papier einreißt, und setzt ihn ebenfalls auf die »fast sichere« Seite. Plötzlich ist sie sich bei überhaupt nichts mehr sicher.
Den ganzen Nachmittag lang brummt ihr der Kopf von Gedanken, die sie nicht kontrollieren kann. Sie möchte schreien, damit sie aufhören. Aber sie kreisen einfach in einer Endlosschleife. Nach einer Weile legt sie einfach den Kopf auf den Tisch und gibt auf.
***
»Kendall!«
»Ja?«
»Zeit, zu gehen.«
Langsam und müde setzt Kendall sich auf. Sie hat keine Ahnung, wovon Ms Hinkler den ganzen Tag geredet hat. Es ist ihr auch egal. Ihr Körper fühl sich an wie Blei. Einen Augenblick lang bleibt sie sitzen und bemerkt, dass alle außer Jacián bereits gegangen sind. Sie steht auf und nimmt ihren Rucksack.
»Alles klar mit dir?«
Sie nickt. »Ich glaube, mich hat gerade eine Menge Zeug eingeholt.« Als sie in Richtung Tür gehen, wirft sie noch einen Blick zurück auf Nicos Pult. »Ich fange an, mir Dinge einzubilden.«
Jacián hält Kendall die Tür auf, doch er sagt nichts.
»Woher wusstest du es?«, fragt sie.
»Was?«
»Dass du heute Morgen aufstehen solltest, damit ich deinen Tisch geraderücken konnte.«
»Oh, das.« Jacián steigt in den Pick-up. »Das war ziemlich offensichtlich, man musste dir ja nur zusehen.«
»Oh.«
»Außerdem hat Marlena es mir erzählt.«
»Was erzählt?« Kendall wird panisch.
»Dass du ihr gesagt hast, du hättest Zwänge.«
»Oh.« Kendall weiß nicht, was sie sagen soll. Sie ist ein wenig sauer, dass Marlena es ausgeplaudert hat, aber wenn sie es recht bedenkt, hat sie es ihr auch nicht verboten.
»Hattest du damit schon immer Probleme?«
Misstrauisch sieht Kendall ihn an. »Warum?«
Er lässt den Motor an, als sie auf der Beifahrerseite einsteigt. »Ich versuche nur, eine Unterhaltung zu führen. Mein Gott, du bist echt ein wenig paranoid, oder? Gehört das zu der Zwangsneurose oder ist das normal?«
»Und schon wieder benimmst du dich wie ein Idiot. Ist das normal für
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