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Cryer's Cross

Cryer's Cross

Titel: Cryer's Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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sieht aus dem Fenster auf die fernen Berge. Mrs Fletcher drückt ihr die Hand und fährt nach Hause.
    Damit haben sie gerechnet. Sie haben es erwartet. Und um ehrlich zu sein, hat Kendall nicht mehr viel daran gedacht, seit Nico verschwunden ist. Es scheint keine Rolle mehr zu spielen. Nichts scheint mehr eine Rolle zu spielen.
    Trotzdem fragt sie sich, warum es dann so wehtut.
    An diesem Abend prüft Kendall alle Türen und Fenster sechsmal, bevor sie ins Bett geht. Sie ist erschöpft, aber in ihrem Kopf beginnt es wieder zu arbeiten und sie ruft sich alles ins Gedächtnis, was an diesem Tag geschehen ist, um den Brief von der Juilliard so gut wie möglich zu verdrängen. Aber es spielt keine Rolle, denn ihr Kopf bringt sie zu den früheren Ereignissen dieses Tages.
    Sie kann nur an eines denken.
    Schultische.

Wir
    Nur ein leiser Hauch von Wärme heute.
    Kalt, so kalt. Ächzend schleifen unsere gusseisernen Anker über den Boden. In etlichen Stunden der Anstrengung sind Wir auf der Suche nach Wärme und Leben. Einmal stoßen Wir an ein seelenloses Wir, ein andermal drängen Wir den Toten von Unserem Weg ab in den leeren Raum. Wir atmen, leiden, rasten und bemühen Uns erneut. Wir machen Unseren Zug. Wir belauern die nächste Seele zum Tausch für einen von Uns.

15
    Als Kendall und Jacián am nächsten Tag in die Schule kommen, spürt sie es sofort, und ihr läuft ein Schauer über den Rücken – etwas stimmt nicht. Sie geht ihre Rituale durch und richtet die Tische aus. Als sie in den Bereich der Zwölftklässler kommt, bleibt sie stehen.
    »Die Bänke sind vertauscht«, stellt sie fest. »Die von Nico und Travis. Warst du das?«
    Jacián runzelt die Stirn. »Du warst doch die ganze Zeit bei mir. Hast du gesehen, dass ich sie vertauscht habe?«
    Kendall zerrt Travis’ Pult aus dem Weg und schiebt das von Nico wieder an seinen Platz.
    »Wer könnte das gewesen sein?« Sie fährt sich gestresst mit den Fingern durch die Haare. »Das ist Nicos Tisch. Und der bleibt neben meinem stehen. Das ist nicht witzig!«
    »Wahrscheinlich hat der Hausmeister sie beim Saubermachen vertauscht. Ist doch keine große Sache.« Jacián widmet sich wieder seinem Buch. »Ich würde ja fragen, woher du überhaupt weißt, dass das Nicos Tisch ist, aber ich fürchte mich ein wenig vor der Antwort.«
    »Ich kenne alle Tische«, erklärt Kendall, die gerade den von Travis geraderückt. »Ich habe sie …«
    »Nein!« Jacián hebt die Hand. »Was habe ich gerade gesagt?«
    Kendall bricht abrupt ab. Während die anderen Schüler eintreffen, sieht sie sich die Stelle auf Nicos Pult mit der neuen/alten Kritzelei von gestern an. Sie ist immer noch da, wie vorher, und sieht aus, als wäre sie schon seit Jahren dort. Sie schüttelt den Kopf. Vielleicht hat sie es vorher übersehen oder es vergessen. Es war ja nicht so, als sei sie die letzten Wochen sehr zuverlässig gewesen. Und vielleicht hat sie es dieses Mal anders wahrgenommen, weil dort Hilfe stand. Es war fast, als würde Nico nach ihr rufen.
    Doch wie so viele andere Gedanken in ihrem Kopf ist auch dieser einfach lächerlich.
    Ungefähr nach dem halben Tag, als sie eigentlich eine Buchbesprechung schreiben soll, hält sie auf einmal inne und legt den Stift weg. Es trifft sie wie ein Schlag. Sie wird nicht auf die Juilliard gehen.
    Sie hat keinen Grund, je wieder zu tanzen. Außerdem hat sie keinen Grund, je wieder Fußball zu spielen. Sie hat keinen Grund, irgendetwas zu tun, ohne diese Dinge. Ohne Nico. Sie lässt ihren Kopf auf den Tisch sinken und fühlt sich plötzlich völlig erschöpft. Auf ihren Block kritzelt sie »Verloren«, wobei der letzte Buchstabe gefährlich am rechten Rand herunterhängt.
    Jacián wirft einen Blick auf ihren Block, runzelt die Stirn, sagt aber nichts.
***
    Die Tage ziehen für Kendall einer nach dem anderen in Schwarz-Weiß vorbei. Sie schleppt sich durch eine todlangweilige Routine von Schule, Farmarbeit, Hausaufgaben und Schlaf. Schweigend fährt sie mit Jacián und Marlena im Pick-up zur Schule und wieder nach Hause, macht gelegentlich Small Talk, an den sie sich hinterher nicht erinnern kann. Sie sitzt ruhig an ihrem Pult, bringt den Tag irgendwie hinter sich und tut, was ihre Zwänge von ihr verlangen, nicht mehr und nicht weniger.
    Seit Marlena wieder in der Schule ist, hören auch die Besuche auf Hectors Ranch auf. Marlena ist jetzt mehr mit den Zehntklässlern zusammen, die sie jetzt erst richtig kennenlernen und ihr helfen, wenn es nötig

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