Cryer's Cross
ist.
Auch die Fußballspiele mit Jacián hören auf. Kendalls Eltern brauchen sie dringend auf der Farm. Es ist mitten in der Erntezeit, und Kendall muss mitarbeiten. Jeden Tag steht sie nach der Schule stundenlang an einem Fließband, bis zu den Ellbogen in eiskaltem Wasser, um Blätter und schlechte Kartoffeln auszusortieren. Und sie kann nur nachdenken.
Doch für Kendall spielt das alles keine Rolle mehr. Nico ist fort. Die Juilliard ist kein Ziel mehr. Für ihre beiden liebsten Dinge gibt es keine Zukunft mehr – beide Träume sind innerhalb weniger Tage zerplatzt. Worauf soll sie sich jetzt noch freuen? Die Wahrheit ist, dass Kendall nach außen hin vielleicht stark ist. Sie kann einstecken, und sie kann sich wehren. Aber im Inneren, in ihrem furchtsamen Herzen und ihrem dummen, wirren Kopf, weiß Kendall, dass sie für immer in Cryer’s Cross bleiben wird. Sie wird auf der Farm arbeiten, bis sie sie eines Tages erben wird. Wahrscheinlich wird sie jemanden wie Eli Greenwood oder Travis Shank heiraten, und ihre Kinder werden in einem zu kleinen Fußballteam spielen, bis sie mit der Schule fertig sind.
Vielleicht auch nicht. Vielleicht überrascht sie die Stadt damit, dass sie Single bleibt, ein oder zwei Babys adoptiert und sich auf der Farm versteckt.
Und wartet.
Darauf, dass Nico zurückkommt.
Wir
Enttäuscht. Unsere Energie verschwendet, nur um beiseitegeschoben zu werden. Der Zorn! Oh, … aber die Berührung … sie ist da. Sie ist nahe, in Unserer Reichweite. Wir müssen stärker werden. Unser nächstes Opfer von weither zu uns ziehen.
Wir brodeln, Tag um Tag, und hüten die Uns verbliebenen Kräfte.
Und Wir warten.
16
Mitte Oktober steckt Kendall in einer Schleife deprimierender Gedanken fest, die sie nicht loslassen wollen. Ohne ein Ziel, ohne ihren besten Freund ist sie verloren, verloren in tausend Hektar Kartoffelfeldern. Alles ist bedeutungslos, planlos. Nichts ergibt Sinn. Alles, was sie tun kann, ist weitermachen. Mit der Arbeit fertig werden, damit sie am nächsten Tag aufstehen und wieder anfangen kann. Vor elf ins Bett gehen, damit das Ausbleiben des Anrufs nicht so schmerzt. Früh zur Schule gehen, damit sie tun kann, was zu tun ist; ihre Neurosen diktieren ihren Tagesablauf.
Jeden Abend steht sie oben am Fenster und sieht zur Cruz-Farm hinüber. Warum, weiß sie nicht. Es ist nur … der Erinnerung zuliebe. Doch jeden Abend bietet sich ihr ein düsterer, einsamer Ausblick. »Ich sage auch allen, dass wir zusammen sind, wenn du nur zurückkommst«, flüstert sie, während das Fenster von ihrem Atem beschlägt. »Ich verspreche es.«
In dieser Nacht sieht sie, wie ein Auto langsam die Schotterstraße entlangfährt und seine Bremslichter flackern, als es den Schlaglöchern ausweicht. Nachdem es verschwunden ist, ist die Welt wieder dunkel, abgesehen von den Sternen und dem Herbstmond, der sein oranges Licht über die Felder leuchten lässt.
»Ich weiß, du kannst diesen Mond auch sehen, Nico«, flüstert sie. »Irgendwo.«
Gerade als sie sich vom Fenster abwenden will, nimmt sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung in der Mitte der Einfahrt wahr. Ihr Herz scheint auszusetzen. Könnte das Nico sein? Angestrengt starrt sie hinaus. Das kann nicht sein. Wie benommen geht sie die Treppe hinunter und sagt sich, dass er es nicht sein kann. Das hätte ihr jemand gesagt. Als sie die Tür erreicht, hat sie bereits Angst. Wenn es nicht Nico ist, wer steht dann um diese Uhrzeit in ihrer Auffahrt?
Kurz bevor sie aus der Tür stürzen will, kommt sie zur Besinnung. Vielleicht ist es der Entführer, der sie holen will? Sie holt tief Luft und schiebt vorsichtig den Vorhang am Fenster neben der Haustür beiseite. Sie späht hinaus, und ihre Augen gewöhnen sich nur sehr langsam an die Dunkelheit.
Doch da ist niemand. Niemand, den sie sehen kann, nicht bei so vielen Möglichkeiten, sich zu verstecken: hohes Gras, Bäume, Scheunen, Traktoren, hinter denen man sich verbergen kann. Sie wirbelt herum und läuft wieder zurück zum oberen Fenster. Und von dort aus sieht sie eine Gestalt – sie ist sicher, es ist ein Mann –, der quer über das Feld davonläuft.
Sie rast zum Telefon und wählt Eli Greenwoods Nummer. Sheriff Greenwood nimmt ab.
»Hallo?«
»Ich habe gerade einen Mann gesehen, der unser Haus beobachtet hat!«, ruft sie atemlos.
»Mrs Fletcher?«
»Nein, hier ist Kendall. Vor einer Minute hat ein Mann mitten in unserer Auffahrt gestanden, und ich habe erst gedacht, es sei Nico, aber
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